von Tomas Gärtner
Sich nur beteiligen am offiziellen Gedenken oder selbst etwas organisieren? Diese Frage hat die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Dresden vor dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus lange bewegt. Schließlich haben sie entschieden: Erstmals wird es eine eigene Veranstaltung geben. Nicht am Freitag, 27. Januar, wegen des Schabbats, aber zwei Tage später am Sonntag. Bis jedoch feststand, wie die Gedenkveranstaltung ablaufen soll, wurde viel diskutiert.
Im vergangenen Jahr hatte sich die Gemeinde am offiziellen Gedenken der Stadt beteiligt. Anfang Dezember debattierte die Repräsentantenversammlung der Gemeinde über den Vorschlag, ein eigenes Gedenken zu organisieren. Dort wurden Stimmen laut, daß eigentlich zwei Gründe dagegen sprächen. Zum einen sei der 27. Januar offizieller Gedenktag für »alle« Opfer des Nationalsozialismus, nicht nur für die jüdischen. Zum anderen komme der inzwi- schen von der UNO festgelegte Gedenktag im jüdischen Kalender nicht vor. Dort gebe es den Jom Haschoa am 27. Nissan.
Doch Mitte Dezember sprachen sich besonders einige Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion für eine eigene Gedenkveranstaltung der Gemeinde aus. Paulina Romanitschewa, eine aus Rußland zugewanderte Germanistin, sagte: »Es ist doch auch unsere Sache« und fing an, gemeinsam mit einem halben Dutzend weiterer Gemeindemitglieder eine Gedenkveranstaltung zu organisieren. Doch allein vom Tatendrang eines Häufleins ließen sich die Bedenken der anderen nicht zerstreuen. erzählt Simcha ben Abraham, der wie auch der Betreiber des Gemeindecafés, Ramon Anusiewitsch, zu Romanitschewas Mitstreitern im Vorbereitungskreis gehört. »Es gibt unterschiedliche Vorstellungen des Gedenkens.« Vor allem mußten sich alteingesessene und zugewanderte Gemeindemitglieder einig werden.
Anfang Januar war man dann einen Schritt weiter: Es wurde diskutiert, ob während der Veranstaltung Bilder aus einem Dokumentarfilm über die Befreiung des KZ Auschwitz an die Wand projiziert werden könnten. Mit dem Argument, man müsse auf diejenigen in der Gemeinde Rücksicht nehmen, die während der Schoa Familienangehörige verloren haben, sprachen sich einige dagegen aus, erzählt ben Abraham. Andere hingegen meinten, die historischen Ereignisse müßten möglichst anschaulich dargestellt werden. In der zweiten Januarwoche einigten sich die Organisatoren schließlich darauf, in der Gedenkveranstaltung keinen Film zu zeigen und statt dessen Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Unter ihnen ist mit seinen 95 Jahren auch das älteste Gemeindemitglied Leon Anusiewitsch. Er und sein Sohn Ramon gehören zu den wenigen deutschsprachigen Juden in Dresden.
Damit stand der Ablauf fest: Im Mittelpunkt soll der Bericht über das Schicksal der letzten Überlebenden der Schoa in der Gemeinde stehen. Von Dresden aus war sie 1944 nach Auschwitz deportiert und dort 1945 befreit worden.
Davon sollen bei der Veranstaltung auch die aus den Ländern der GUS zugewanderten Mitglieder erfahren, die heute die Mehrheit der Gemeinde ausmachen. So würden sich bei dieser Gelegenheit unterschiedliche Geschichten von Verfolgung begegnen, sagt Gemeindevorsitzende Nora Goldenbogen, selbst Historikerin. Neben den in den KZs ermordeten deutschen Juden werde an die in den Ghettos umgekommenen Angehörigen von zugewanderten Gemeindemitgliedern erinnert. Und auch an Verwandte, die als sowjetische Soldaten für die Befreiung von den Nationalsozialisten gefallen sind. Symbolisch sollen sechs Kerzen entzündet werden – für alle sechs Millionen Opfer.
Die selbstorganisierte Veranstaltung sei wichtig für die Gemeinde, betont Nora Goldenbogen: »Die Alteingesessenen und die Zugewanderten beschäftigen sich sowohl mit ihrer eigenen als auch mit unserer gemeinsamen Geschichte. Auf diese Weise lernen wir einander verstehen.«
Sich nur mit den eigenen Opfergeschichten zu beschäftigen, sie gar gegen die anderen abzuwägen, hält auch Paulina Romanitschewa für den falschen Weg. Daß die Ge- meinde sich im Gedenken vereinige, sei eine Chance, die dieser Tag ihnen biete.
Die Gedenkveranstaltung findet am Sonntag, 29. Januar, 15 Uhr, im Gemeindehaus, Hasenberg 1, statt.