Arthur Sakheim

Vaters Land

von Frank Keil-Behrens

»Mein einziges, 16jähriges Knäblein! Darf ich noch einmal Puzele sagen? Denn ein ganz kleines Puzilein warst du heute vor 16 Jahren«, schreibt Anuta Sakheim im Juni 1939 aus Palästina an ihren in New York lebenden Sohn. Es ist einer ihrer letzten Briefe, eng getippt auf dünnem, fast durchsichtigem gelben Papier. Er ist in einem Glasschrank der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek aufgestellt, in einer Ausstellung zu Ehren des Journalisten, Schriftstellers und Theatermanns Arthur Sakheim (1884-1931). Zur Eröffnung ist auch »Puzilein«, Sakheims inzwischen 84 Jahre alter Sohn George mit Frau und Tochter aus New York gekommen.
George heißt Ruben Gabriel, als er im Juni 1923 in Hamburg geboren wird. Sein Vater Arthur arbeitet als Dramaturg und Regisseur an den Kammerspielen. 1926 zieht die Familie nach Frankfurt am Main. Arthur Sakheim hat eine Stelle am dortigen Schauspielhaus bekommen. »Es waren gute Jahre«, sagt George Sakheim. Doch er erinnert sich auch an einen Abend, als sein Vater so verstört wie empört nach Hause kam: Rechte Randalierer hatten versucht, eine Aufführung von Brechts und Weills Dreigroschenoper gewaltsam zu sprengen. »Mein Vater ließ sie rausschmeißen, das ging damals noch.«
Im Sommer 1931 fahren die Sakheims in die Ferien nach Hiddensee. Was der Sohn erst Jahrzehnte später erfahren wird: Sein Vater ist gerade entlassen worden. Der Intendant des Schauspielhauses, selbst jüdischer Herkunft, hat Arthur Sakheim wegen seines »undeutschen« Spielplans fristlos gefeuert. Anderthalb Jahre später muss der Intendant selbst gehen, als die Nazis an die Macht kommen. Eine böse Ironie, die Arthur Sakheim nie erfahren wird: Er erkrankt im Urlaub an einer Blinddarmentzündung. Frisch operiert kommt eine Lungenentzündung hinzu. Sackheim stirbt am 23. August 1931 in der Berliner Charité.
Seine Schwester holt Mutter und Sohn nach Berlin, die Witwe findet eine Anstellung beim Ullstein-Verlag, bis die Nazis alle jüdischen Angestellten auf die Straße setzen lassen. Anuta Sakheim packt zusammen, was sie mitnehmen kann, fährt mit dem Jungen per Zug nach Italien und von dort mit dem Schiff durchs Mittelmeer nach Palästina. »Es gab keine Hafenanlagen, da haben uns die Araber freundlich auf ihren Schultern durchs Wasser getragen«, erinnert sich George Sakheim. Deutschland vermisste der Zehnjährige nicht: »Wir waren froh, dass wir rausgekommen sind.«
Ihren Lebensunterhalt verdient die Mutter als Taxifahrerin – die erste in Palästina – und Fremdenführerin. Der Sohn kommt bei einer Pflegefamilie unter. Doch der Krieg rückt näher, die Spannungen zwischen Juden und Arabern im Land nehmen zu, die Touristen werden weniger, bleiben am Ende aus. Anuta Sakheim verdient kaum mehr Geld. Sie erkrankt schwer, kann die Behandlungskosten nicht bezahlen. Was soll aus dem Jungen werden? Ihre Schwägerin, von Berlin nach New York emigriert, bietet an, den Sohn aufzunehmen. Schweren Herzens willigt Anuta Sakheim im April 1938 ein. Ruben Gabriels Abschiedsschmerz hält sich auch diesmal in Grenzen: »Mein Vater war tot, meine Mutter sah ich nur zwei- bis dreimal im Monat, um uns herum wurde es immer schwieriger, ich freute mich auf das Abenteuer Amerika«. Von New York aus schreibt er der Mutter regelmäßig über sein neues Leben. Dann kommt im September 1939 ein Brief zurück: Empfänger verstorben. Am nächsten Tag das Telegramm mit der Todesnachricht: Anuta Sakheim hat sich das Leben genommen.
George Sakheim macht eine Pause, streckt den Rücken, fragt höflich: »Was möchten Sie noch wissen?« Wie er das alles verarbeitet hat? Eine Psychoanalyse habe ihm sehr geholfen. »Sie können sich vielleicht vorstellen, was ich für tiefe Schuldgefühle hatte, dass meine Mutter so ein schlimmes Leben führen musste, während es mir vergleichsweise gut ging.« Und er fügt hinzu: »Ich war ja kein junger Mann, da verarbeitet man so etwas vielleicht leichter; ich war ja noch ein Kind.« Später ist er selbst Psychologe geworden, Kinder- und Jugendpsychiater.
1945 kommt George Sakheim als Soldat zurück nach Deutschland. Seine Einheit kämpft am Rhein bei Aachen und Köln, befreit das KZ Nordhausen: »Da kamen sie uns entgegen, ausgemergelt, flehten um etwas zu essen.« Er streckt die Arme weit vor, krümmt die Hände fast wie Klauen. George Sakheim wird Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen, übersetzt die Antwort von Auschwitzkommandant Rudolf Höss auf die Frage ob er nachts schlafen könne: »Ja doch, danke. Sehr gut sogar.«
George Sakheim geht noch einmal an den Vitrinen vorbei, in denen die Schriften, Aufsätze und Bücher seines Vaters unter Glas liegen. Er liest die Zitate, die Arthur Sakheim als einen der wichtigen intellektuellen Köpfe jener Tage ausweisen, bleibt an dem Schrank stehen, in dem sich einige der wenigen geretteten Familienfotos finden. Darunter eines, auf dem der kleine Ruben Gabriel ein Löwenjunges in den Armen hält: »Meine Tante wollte mich nach dem Tod meines Vater ein wenig aufmuntern, sie nahm mich mit in den Berliner Zoo; na ja, es hat nicht viel geholfen.«

»Profundes Wissen und brennende Liebe. Der Theaterkritiker, Schriftsteller und Dramaturg Arthur Sakheim«, Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky Hamburg bis 12. August
www.sub.uni-hamburg.de/blog/?p=553

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