von Reuven Konnik
Es ist eine Herausforderung, aus unangenehmen Angelegenheiten zu lernen. Aus den zehn ägyptischen Plagen lernen wir das Prinzip »Mida keneged Mida«. Die göttliche Führung entspricht dem Verhalten des Menschen: »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«. Kaum eine andere Stelle in der Tora ist so dramatisch wie der legendäre Auszug aus Ägypten. Viele spannende Kommentare und Midraschim beschreiben den Verlauf der zehn Plagen, die in dieser Erzählung eine zentrale Rolle spielen.
Die erste Plage kommt über die Ägypter nach mehrfachen Warnungen. Mosche geht zum Pharao, als dieser unterwegs zu seiner morgendlichen Waschung ist, und spricht wiederholt den berühmten Satz: »Lass mein Volk ziehen« (2. Buch Moses 7,16) und kündigt die Plage mit allen Einzelheiten an. Vor den Augen Pharaos und seiner Diener schlägt er mit seinem Stab auf das Wasser des Nils, das sich daraufhin in Blut verwandelt (7,20). Das Wasser in allen ägyptischen Brunnen, Behältern und sogar der Saft von Früchten ist für die Ägypter unbrauchbar geworden. So wie sie vorher unschuldiges Blut vergossen haben, wurde ihnen auf diese Weise angekündigt, dass auch ihr Blut vergossen wird.
Die nächste Plage ist noch unerträglicher als die erste: »So plage ich dein ganzes Gebiet mit Fröschen« (7,27). Sofort befallen Schwärme von Fröschen jedes ägyptische Haus, liegen in jedem Bett, springen in jedes Essen. Verschluckte Frösche bewegen sich sogar im Magen und in den Gedärmen weiter, aus einem getöteten Frosch entstehen sechs neue Frösche. Vorher war das Volk Israel gezwungen, in unmöglichen hygienischen Verhältnissen zu leben. Um sie zu quälen, haben ägyptische Aufseher sie und ihre Kinder genötigt, unreine und ekelerregende Kriechtiere und Frösche zu essen. Nun geschah in ganz Ägypten genau dasselbe und niemand – nicht einmal der Pharao und seine Magier – konnte sich dagegen wehren.
So bittet Pharao Mosche, die Plage zu beenden und verspricht, das Volk ziehen zu lassen. Die Frösche verschwinden, und natürlich nimmt Pharao sofort sein Versprechen zurück, worauf die dritte Plage einsetzt: Aus dem »Staub der Erde soll im ganzen Land Ägypten Ungeziefer werden« (8,12). Mit dem Anfang dieser Plage mussten die Sklaven nicht mehr arbeiten, denn es gab keine Bauflächen, die frei von Insekten waren. Pharaos Untertanen hatten sich alle infiziert – außer den Israeliten, die vorher gezwungenermaßen Staubfeger auf öffentlichen Straßen und in ägyptischen Häusern waren. Nach dieser abscheulichen Plage zweifelt niemand mehr daran, dass es sich um Plagen Gottes handelt.
Wenn diese Plagen das Wohlergehen der Ägypter bereits erheblich gestört haben, so birgt die vierte in sich nicht nur Belästigung oder Qual, sondern Lebensgefahr. Vor dieser Plage ist Pharao noch zu keinem Gespräch bereit und reagiert nicht auf Mosches Ankündigung. Als göttliche Strafe dafür, dass die Israeliten gezwungen worden waren, mit bloßen Händen Raubtiere zu fangen oder ohne Waffen gegen sie zu kämpfen, tauchen jetzt »massenhaft wilde Tiere« (8,20) im Palast auf. Da bekommt Pharao es mit der Angst zu tun und ruft nach Mosche und Aaron. Diesmal kündigt er an, das Volk für einen Gottesdienst in die Wildnis zu entlassen.
Zu erheblichen finanziellen Verlusten führt die nächste Plage, die einsetzt, nachdem Pharao seine Ankündigung nicht in die Tat umsetzt und sich auch von der daraufhin folgenden Mahnung nicht beeindrucken lässt: »So wird die Hand Gottes gegen dein Vieh sein, das auf dem Feld ist, gegen Pferde, Esel, Kamele, Rinder und Schafe – eine sehr schwere Pest« (9,3). Die Ägypter hatten nicht nur viele israelitische Männer als unbezahlte Hirten weit weggeschickt, damit sie ihren Familien fernblieben, sondern sie hatten ihnen auch ihr Vieh geraubt. Nun starben alle Nutztiere der Ägypter.
Die sechste Plage folgt nach der Viehpest und ist die schmerzhafteste von allen. Es handelt sich um eine bisher nicht aufgetretene Hautkrankheit, bei der kein Medikament Erleichterung bringt. Zudem darf man mit den »Geschwüren, die in Blattern ausbrechen« (9,9) nicht baden, und das Kratzen verursacht unvorstellbare Schmerzen. Die Geschwüre hat jeder, der seine jüdischen Sklaven nicht baden ließ und sie schlug, wenn sie sich kratzten. Wenn die sechste Plage der Höhepunkt der körperlichen Schmerzen ist, so vereint die siebente schreckliche Furcht und Entsetzen mit der Einsicht der eigenen Ohnmacht. Obwohl alle abermals gewarnt wurden, brachten sich nur die Wenigsten in Sicherheit, als »Hagel fiel und Feuerblitze sich durch den Hagel schlängelten« (9,24).
Von den letzten drei Plagen berichtet der folgende Wochenabschnitt »Bo«. Jedoch auch bei ihnen liegt der Schlüssel zum Verständnis in dem Prinzip »Mida keneged Mida«. Mit seinem Denken, Fühlen und Handeln vermag der Mensch Gewaltiges zu vollbringen. Eine jede Tat führt zu einer entsprechenden Realität, auch wenn diese nicht immer so eindeutig wie bei den ägyptischen Plagen mit ihr in Verbindung gebracht werden kann. Der Talmud lehrt uns »Mida towa meruba« – die Kraft des Guten vermag mehr als die des Bösen. Wenn wir aus den zehn Plagen lernen, wie weit die Konsequenzen schlechter Absichten und Handlungen reichen, so gilt dies umso mehr für alles Gute, das der Mensch imstande ist zu schaffen. Seien wir uns dieser Kraft und der damit verbundenen Verantwortung bewusst.
Der Autor ist Rabbinatsstudent an der Jeschiwa »Beis Zion« in Berlin.