von Peter Steinbach
Eine ehemalige Tagesschau-Sprecherin findet vor großem Publikum lobende Worte über das Muttersein im Dritten Reich. Der Förderverein einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die Verbrechen der DDR benennt einen Preis nach einem Mann, der zwar Opfer der Stasi wurde, aber auch an der Arisierung jüdischen Eigentums beteiligt war. Dumm oder dreist? Womöglich beides. Und nicht nur das. Die Beispiele machen deutlich: Die Erinnerung an den NS-Staat schleift sich ab. Mehr noch: Offensichtlich setzt sich schleichend eine neue Deutung des »Tausendjährigen Reiches« durch, die zumindest tendenziell verharmlost. Damit geht einher, dass die »zweite Diktatur«, der SED-Staat, immer prononcierter zum Bezugspunkt politischer Bildung gemacht wird (vgl. S. 8).
Ausdruck findet diese Tendenz in der Fortschreibung des bundesdeutschen Gedenkstättenkonzepts. Hatte der ursprüngliche Entwurf die Bedeutung von Stätten des NS-Terrors noch deutlich herausgestellt, so hat sich die Gewichtung nun völlig verschoben. Im neuen Konzept spielen die Erinnerungsorte, die sich auf die DDR und ihre Verbrechen beziehen, eine wesentlich größere Rolle als diejenigen, die das Bewusstsein für die Schandtaten der Nazizeit schärfen. Gerade deshalb ist es notwendig, sich auf die Prinzipien historisch-politischer Reflexion zu besinnen. Denn die eigentliche Gefahr des Vergleichs von Unrechtsregimen liegt nicht so sehr in den Details, sondern in Bewertungen, die aus Relativierungen erwachsen, die jeder Vergleich nach sich ziehen muss. Das macht das Gegenüberstellen von auf Gewalt und Unterdrückung basierenden Systemen politisch nicht nur umstritten, sondern vor allem dann verletzend, wenn es um die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit geht. Diese zwölf Jahre waren geprägt durch die Unterdrückung des Andersdenkenden, durch Rassenhass, durch Diffamierung des angeblich Minderwertigen, durch Deportationen und systematisch betriebenen Völkermord, durch die Proklamation eines »Rassenkampfes«, der aus dem Zweiten Weltkrieg einen Weltanschauungskrieg machte. Die »Endlösung der Judenfrage« war keine Propagandafloskel, sondern ein zentrales Kriegsziel. Industriemäßig betriebener Völkermord als »singuläres Verbrechen« entzieht sich aber dem relativierenden Vergleich.
Wer die verschiedenen diktatorischen Systeme nebeneinander betrachten und bewerten will, muss die Unterschiede und Besonderheiten der beiden Diktaturen genau bestimmen. Verwischt werden Differenzen nicht selten durch die Totalitarismusthese. Sie ist aber kaum eine Grund- lage für eine analytische und reflektierte Interpretation der Vergangenheit, sondern wurde oft als ein politischer Kampfbegriff instrumentalisiert. Entstanden in den Jahren der untergehenden Weimarer Republik, wurde diese Theorie vor allem zu Beginn des »Kalten Krieges« die Grundlage für die Gleichung Rot = Braun. Dabei ging es nicht vorrangig um den politischen Alltag in einem diktatorischen System, um Massenaufmärsche, Propaganda, Haftbedingungen und Erziehung, sondern vor allem um eine plakative und politisch gewollte Gleichsetzung von Phänomenen. Das ideologische Ziel: die Diskreditierung kommunistischer Systeme. Und die ging eben oft einher mit einer unzulässigen Verharmlosung der NS-Zeit. Verschwand in den siebziger und achtziger Jahren die Totalitarismusthese mehr oder weniger in der Versenkung, tauchte sie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder auf. Mit dem gleichen Zweck und den gleichen Folgen.
Kein Wunder also, dass der SED-Staat im Mittelpunkt steht, wenn es um die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts geht. Ist das ausgewogen, der Sache angemessen, weil wir doch schon »so viel« über den NS-Staat zu wissen glauben? Nein, ist es nicht. DDR-Diktatur: Das war, wie andere Diktaturen auch, eine Ordnung ohne Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, ohne Grundrechte und liberale Öffentlichkeit. Die NS-Diktatur hatte jedoch eine ganz andere Dimension. Sie führte einen Rasse- und Weltanschauungskrieg. Sie richtete sich nicht nur gegen die Würde des Einzelnen, sondern wandte sich gegen die ganze Menschheit. Der NS-Staat beging Menschheitsverbrechen. In Deutschlands Namen.
Trotz dieser Singularität hat sich das staatliche Förderinteresse – das neue Gedenkstättenkonzept spricht da Bände – von der Erforschung der NS-Zeit hin zur SED-Zeit verlagert. Doch das »Dritte Reich« darf nicht in den Windschatten von Ulbrichts und Honeckers Reich geraten. Denn das triebe eine Art der Historisierung des Naziregimes weiter voran, die Gleichmachern, Relativierern und Verharmlosern in die Hände spielt. Lobgesänge auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 – man mag es sich lieber nicht vorstellen.
Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim und wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.