Viele ihrer amerikanischen Gäste erzählen Sue Arns, sie seien froh, sie als Stadtführerin gebucht zu haben, denn bei einem Nichtjuden hätten sie sich nicht getraut, jede Frage zu stellen. Bei einer Führung mit Sue Arns durch das jüdische Berlin fühlen sie sich jedoch gut aufgehoben und verstanden. Und das beruht auf Gegenseitigkeit: Arns hat bei ihren jüdischen Gästen sofort das Gefühl einer Seelenverwandtschaft. Sie ersetzen ihr sozusagen die Familie, die sie nie hatte.
Sue Arns wurde 1956 in Bogota geboren. 1937 hatten ihre Eltern Nazi-Deutschland verlassen müssen und ließen sich in Kolumbien nieder, wurden dort aber nie wirklich heimisch. Die kleine Sue wuchs mit der deutschen und der spanischen Sprache auf, ihre Erziehung war aber, wie sie es nennt, »sehr deutsch«. So ging sie in die deutsche Schule und hörte ihre Mutter viel von Deutschland erzählen. »Meine Mutter hat immer mit großer Sehnsucht von Berlin gesprochen«, so Sue Arns, »es war für sie zu Hause.« Die Familiengeschichte und dieFlucht aus Berlin erwähnte sie hingegen nie – Sue Arns kann sich gut erinnern, dass ihre Mutter sagte: »Wir haben keine Familie.« Vielleicht hätte sie später darüber erzählen wollen, doch dazu kam es nicht mehr, denn sie starb, als ihr Kind erst zwölf Jahre alt war.
Neuanfang Für Sue Arns war es eine logische Folge, schon in sehr jungen Jahren nach Deutschland zu kommen, wo sie ihre Mehrsprachigkeit für eine Ausbildung als Bürokauffrau nutzen konnte. Nach einem Aufenthalt in Südafrika, wo sie begann, in der Reisebranche zu arbeiten, zog es sie nach Berlin, der Heimatstadt ihrer Mutter. Hier beschloss sie einen Neuanfang, die jüdischen Touren bekam sie bei ihrer Arbeit als mittlerweile zertifizierte Stadtführerin zuerst zufällig zugeteilt. Sie vertiefte sich deshalb in die Geschichte der Juden in Berlin und damit auch in ihre eigene Familiengeschichte.
Doch erst ihr Mann gab den Anstoß, nach Familienmitgliedern zu suchen: »Das gibt es nicht, dass man gar keine Familie hat.« Jeder habe Angehörige. Seitdem suchen beide in Archiven und anhand von alten Fotos, die sie auch ins Internet gestellt haben, nach Spuren der Vergangenheit. Doch ohne Namen – die Sues Mutter nie erwähnte – gestaltet sich diese Suche schwierig.
Vielleicht deshalb empfindet Sue Arns so viel Nähe zu ihren jüdischen Berlin-Besuchern, die oft ähnliche Familiengeschichten erzählen. Die meisten von ihnen kommen aus den USA und werden durch die Empfehlung von Freunden oder der gehobenen Hotels auf sie aufmerksam. Ihre jüdischen Touren unterscheiden sich grundlegend von einem zweistündigen Spaziergang durch das Scheunenviertel, denn sie führt ihre Gäste am liebsten den ganzen Tag im Wagen herum. Das ist zwar nicht billig – 80 Euro pro Stunde –, aber da ihr Mann fährt, kann sie sich vollständig auf die Gäste konzentrieren. Dieser Ansatz ermöglicht den interessierten Touristen, viel mehr zu entdecken als nur die Oranienburger Straße und das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. So führt sie sie gern zum Haus der Wannseekonferenz und zum Bahnhof Grunewald, ins Bayerische Viertel und zur Löcknitz-Grundschule. Das »Denk-mal«-Projekt dieser Schule, das die Schüler seit einigen Jahren aufbauen, mag sie besonders. In der 6. Klasse darf sich jedes Kind eine Person aus einer Liste aussuchen, mit der es sich aufgrund ihres Namens, ihres Geburtstags oder ihrer Adresse identifiziert. Den Namen schreibt es auf einen Stein, der dann das »Denk-mal« erweitert. So werden Themen wie Diskriminierung, Rassismus und Toleranz den Schülern nähergebracht. Ihre Gäste sind von dieser Initiative immer ergriffen, so Arns. Überhaupt stellt sie fest, dass viele Juden aus den USA mit Bedenken kommen und dann vom Umgang mit der Geschichte positiv überrascht sind.
Sue und Eckart Arns bieten übrigens nicht nur jüdische Touren, sondern ebenfalls klassische Führungen zu den Highlights Berlins, durch Schlösser und Museen oder durch Potsdam an. Wobei eine »klassische Führung« auch zum Mahnmal für die ermordeten Juden Europas geht und sich dort manchmal mit nichtjüdischen Gruppen sehr befremdliche Szenen abspielen: »Ein Tourist sagte mir dort, Hitler hätte noch viel mehr umbringen sollen«, erzählt Sue Arns. Sie erwiderte, man denke in Deutschland anders darüber und er mache sich mit solchen Aussagen in der Öffentlichkeit strafbar. Sie versuche immer, die Menschen mit der Frage zu überraschen: »Wissen Sie, wie viele Juden es in Deutschland gab, als Hitler an die Macht kam?« Die wenigsten kenne die Antwort, die meisten sind von gerade mal 0,8 Prozent (etwa 500.000 Menschen) sehr überrascht.
Verständnis So wird jeder Gast dort abgeholt, wo er steht: Bei Sue und Eckart Arns gibt es keine Standardtouren, sondern immer eine auf den jeweiligen Besucher individuell zugeschnittene Führung, deren Länge je nach Wunsch und Interesse variiert. »Neulich dauerte eine Tour neun Stunden«, erzählen die beiden, »weil sich an jedem Ort Gespräche entwickelt haben«. Andere Gäste wiederum wollen möglichst viele Sehenswürdigkeiten fotografieren. Dafür hat sie Verständnis, erinnert sich aber am liebsten an intensive Touren mit wissbegierigen Gästen. «Unsere Stärke ist, dass wir uns mit der Thematik befassen und auch privat Auskunft geben«, erklärt Sue Arns, »und manchmal verabschiedet man sich wie von Freunden.« So luden sie kürzlich am Ende der Führung ihre Gäste ein, sie in die Synagoge zu begleiten – und teilten damit einen privaten Teil ihres Lebens. »Wenn es ankommt, ist es eine befriedigende Arbeit«, stellt Sue Arns fest, »und sie hilft mir, meine Wurzeln und meinen Ursprung zu verstehen.«