Jewgenija Galper

»Unternehmerin zu sein, ist hart«

Als ich jung war, wollte ich ein Medikament erfinden, das meine Mutter immer jung und gesund erhält. Also habe ich Pharmazie studiert und promoviert, damals in der Sowjetunion. Jetzt habe ich eine eigene Apotheke in Gerlingen bei Stuttgart. Doch der Weg dahin war lang und steinig.
»Wie soll das gehen? Ich habe doch kein Geld«, sagte ich ungläubig zu meiner Freundin, als sie mir vor elf Jahren empfahl, mich selbstständig zu machen. Zwar hatte ich nach deutschem Gesetz alle nötigen Papiere zusammen, um als Pharmazeutin anerkannt zu sein, doch ich war damals schon 50. Trotzdem habe ich es geschafft.
Das Gesundheitswesen ist kompliziert geworden, viele Patienten sind verunsichert. Und die Beratung der Kunden spielt eine immer größere Rolle. Man muss also seinen Mitarbeitern die Gelegenheit geben, sich immer gründlich weiterzubilden. Das schönste Kompliment ist, wenn Kunden zu mir sagen: »Sie haben sehr kompetente Mitarbeiter.« Eine meine Mitarbeiterinnen ist Muslima. Sie trägt ein Kopftuch. Keiner wollte sie einstellen. Dann bewarb sie sich bei mir, ich habe sie gern eingestellt. Ich denke, man muss überall Frieden schaffen.
Siebzehn Jahre sind wir nun in Deutschland. Die ersten drei waren die härtesten. Doch von Anfang an hatte ich festen Halt in der Stuttgarter Gemeinde. Was schlecht war, habe ich in der Synagoge ausgeglichen. Als Kind – ich wurde in Moldawien geboren – bin ich traditionell aufgewachsen. Meine Eltern haben alle Feste gefeiert. Natürlich nicht so öffentlich, da mussten wir unser Jüdischsein schon vertuschen. In unserem Haus lebte ein alter Mann. Er sprach immer Jiddisch mit mir und sagte: »Du bist ein jüdisches Mädchen, du musst deine Sprache kennen.« Ich bin ihm sehr dankbar. Denn als wir in Deutschland zu unserem ersten Sprachkurs gingen, habe ich alles verstanden – nur unterhalten konnte ich mich noch nicht.
Am 21. September 1992 haben wir Moldawien verlassen, zu fünft in einem Moskwitsch: mein Mann, unsere beiden Töchter, meine Mutter, ich und ein wenig Gepäck. Das Auto war weiß beflaggt. Damals fand, von der Welt fast unbemerkt, ein kurzer, aber grausamer Krieg um die Stadt Bendery am Westufer des Flusses Dnestr statt. Wir lebten in Bendery. Die Angst wurde zu unserem Fluchthelfer. Schon damals lebten viele unserer Verwandten in Israel. Wir wollten ihnen folgen. Als Gorbatschow 1991 die Türen öffnete, dachten wir: Ach, gehen wir besser nach Deutschland, da ist das Klima ähnlich wie in Moldawien, und wir fassen sicher auch beruflich Fuß.
Doch wir bekamen in Deutschland natürlich keine Arbeit. Warum ich »natürlich« sage? Weil wir, als wir Moldawien verließen, nur Träume im Kopf hatten und überhaupt nichts von Deutschland wussten. Die Vorfahren meines Mannes stammen aus Deutschland, aber das liegt lange, lange zurück. Von Anfang an hatten wir Kontakt zur Stuttgarter Gemeinde. Aber die wussten auch nicht so recht, was sie mit uns anfangen sollten. Immerhin: Wir gingen in die Synagoge, wir suchten Rat bei den Sozialarbeitern, wir feierten mit ihnen Purim und Chanukka, man hatte immer ein offenes Ohr für uns. Wir belegten einen ersten Sprachkurs. Und dann habe ich gedacht, hier gibt es doch an jeder Ecke eine Apotheke, da findest du leicht eine Arbeit.
War ich blauäugig! Weil das Regierungspräsidium mein russisches Pharmaziestudium nicht anerkannte, stand mir nichts anderes zu als ein Praktikumsplatz. Ich war vollkommen ratlos. Aber die Gesetze waren nun mal so. Was sollte ich tun? Sollte ich 20 Jahre Berufserfahrung an den Nagel hängen und von Sozialhilfe leben? Niemals, dachte ich. Auch mein Mann hatte nicht, wie erträumt, eine Arbeitsstelle bei Mercedes bekommen, sondern nur ein Praktikum. Als das zu Ende war, fuhr der studierte Maschinenbauingenieur Taxi, später arbeitete er als Hausmeister in einem Hotel.
Wir sind inzwischen 36 Jahre verheiratet, und ich bin ihm so dankbar. Er hat hart für die Familie gearbeitet, jetzt ist er in den Ruhestand gegangen und hilft mir viel in der Apotheke. Die ganze Familie ist hier beschäftigt, das ist unser Alltag, Woche für Woche, von Montag bis Samstag.
Nach unserer Ankunft in Stuttgart sah dieser Alltag völlig anders aus. Die Mädchen kamen in weiterführenden Schulen unter, aber was wurde beruflich aus uns, aus mir? Beim Regierungspräsidium hatten sie mir gesagt: Studieren Sie! Vervollständigen Sie nach deutschen Gesetzen ihr Pharmaziestudium! Ich dachte: Studieren mit 48, ohne richtig Deutsch zu können, und mit Familie? Wie soll das gehen? Es ging! Meine Familie und eine deutsche Freundin, die ich inzwischen kennengelernt hatte, haben mich in dieser Zeit moralisch sehr unterstützt. Zähne zusammenbeißen und durch, hieß das Motto der nächsten zwei Jahre.
Eines Tages saß ich endlich an der Uni Tübingen – mitten unter jungen Leuten – und studierte. Meine Woche damals sah so aus: Von Montag bis Freitag lebte ich in Tübingen in einem winzigen Zimmer und ging zur Uni. Samstag und Sonntag verbrachte ich in Stuttgart bei meiner Familie. Montag bis Freitag war ich Studentin, am Wochenende Hausfrau, Köchin, Mutter und Ehefrau. Es war hart. Das Zimmer hatte ich nach dem Motto »Je billiger, desto besser« gemietet. Im Winter saß ich im Mantel und in zwei Decken gehüllt am Schreibtisch und lernte. Gingen meine Kommilitonen Kaffee trinken oder etwas essen, rannte ich nach Hause und kochte mir eine Kleinigkeit. Für ein Bistro hatte ich kein Geld. Alle kamen mit dem Auto. Ich sagte: Ich bin sportlich und ging zu Fuß.
Um ein bisschen mehr Geld zu haben, wollte ich putzen gehen. Doch meine ältere Tochter sagte zu mir: »Du bist Apothekerin. Bist du nach Deutschland ausgewandert, um hier putzen zu gehen?« Ich wollte mir Klamotten kaufen. Denn in Tübingen – ich trug einen Plisseerock, weiße Bluse und Stiefel mit hohen Absätzen – war ich mit meiner Garderobe völlig falsch angezogen. Ich weiß es noch genau: Für 9,90 Euro habe ich mir die erste Jeans gekauft und gedacht: Jetzt bist du eine richtige Studentin.
Im ersten Semester wollte ich aufgeben. Meine deutsche Freundin machte mir Mut: Du kannst das, sagte sie. Dass sie an mich geglaubt hat, das war so wichtig für mich. Sie und eine zweite Freundin sind bis heute meine Vertrauten, sie sind an unserem Erfolg beteiligt. Ob wir auch mental angekommen sind in Deutschand? Ja, schon lange. Wir haben einen interessanten, verlässlichen Freundeskreis. Viele sind Ärzte oder Pharmazeuten. Inzwischen leben wir nicht mehr in Stuttgart. Wir sind in die Nähe der Gerlinger Apotheke gezogen.
Der Kontakt zur Gemeinde in Stuttgart ging schon während meines Tübinger Studiums ein wenig verloren. Ich war oft ausgelaugt. Ganz aufgeben aber werden wir die Gemeinde nie. Wir sind als Juden nach Deutschland gekommen. Lilia war bei der Auswanderung 13. Ihre Batmizwa hatte sie in Moldawien. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Moldawien viele Juden, viele der wenigen Überlebenden wanderten später nach Israel aus.
In der Apotheke beschäftige ich zwölf Mitarbeiter, darunter meine beiden Töchter. Ohne sie ginge es nicht. Swetlana hat BWL studiert, und Lilia hat soeben ihr Pharmaziestudium beendet. Unternehmerin zu sein, ist hart und finanziell schwierig. Doch ich würde es wieder so machen.
Gemeindemitglieder bekommen in unserer Apotheke zehn Prozent Rabbat auf nicht rezeptpflichtige Artikel. Und einmal in der Woche berate ich sie kostenlos. Nicht alle verstehen, was ihnen die Ärzte verschreiben. Jetzt habe ich mir vorgenommen, wieder öfter in die Synagoge zu gehen. Doch meistens bin ich todmüde. Aber Gott ist immer bei mir. Kürzlich war ich zwei Wochen in Israel. Da war jeden Tag Synagoge. Aber eines macht mir Kummer: Ein Medikament für meine kranke Mutter habe ich immer noch nicht entdeckt.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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