von Micha Brumlik
Allmählich spricht sich herum, dass der Holocaust nicht nur Teil der deutschen Geschichte ist, sondern auch ein gesamteuropäisches Ereignis war.
Als ein Beispiel für äußerst aktive Kollaboration stellt sich auf der Basis neuester Forschungen derzeit Norwegen dar, das bisher oft in einem Atemzug mit der dänischen Bevölkerung genannt wurde – zu Unrecht, wie sich jetzt zeigen lässt. So hat der norwegische Statistiker Espen Søbye in diesem Jahr die gründlich recherchierte Lebensgeschichte eines jüdischen Mädchens vorgelegt. Sie war die Tochter russischer Juden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Norwegen geflohen waren. 1927 wurde sie dort geboren und 1942 in Auschwitz ermordet. Mit dem Buch Kathe. Deportiert aus Norwegen liegt zum ersten Mal eine penible Studie vor, die nachweist, wie die von Deutschland besetzte norwegische Nation noch über die Anstrengungen der Quisling-Regierung hinaus, aufgrund traditionaler Vorurteile aber auch bürokratischer Hartherzigkeit im Pass- und Staatsbürgerschaftsgesetze, den damals in Nor- wegen lebenden und dort geborenen Juden jenen Schutz entzog, der sie eventuell hätte retten können. Der mit aufschlussreichem Bildmaterial ausgestattete Band erzählt indes nicht nur eine anrührende Geschichte, sondern ist eine umfassende Darstellung des Holocaust in Norwegen, in einem Land, dessen Einwohner sich bis heute nicht wenig auf ihre Solidarität mit den Ländern des Südens, das heißt: auch mit den Palästinensern zugute halten.
Regelrechten Sprengstoff enthält die ebenfalls 2008 erschienene Studie der Hamburger Turkologin und Übersetzerin Corry Guttstadt Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Diese Studie ist deswegen so brisant, weil sie einen Mythos zum Einsturz bringt: von dem die europäischen Juden nach allen Kräften rettenden neutralen Staat am Bosporus.
Guttstadts Studie, die keineswegs nur den Holocaust, sondern die ganze Geschichte der Juden in der kemalistischen Türkei seit den 20er-Jahren penibel auf Basis von neu erhobenen Quellen darstellt, zeigt, dass das schöne Bild nicht stimmt. Die einzelnen mutigen Taten türkischer Botschafter und Konsularbeamter im von den Deutschen besetzten Europa stellen mit Blick auf die Haltung der Türkei bestenfalls ein Viertel der Wahrheit und damit eine ganze Lüge dar.
Guttstadt weist nach, wie der jungtürkische und kemalistische, auf Homogenisierung von Armeniern, Kurden und Juden zielende Nationalismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg Abertausende türkischer Juden zur Auswanderung nach Europa, nach Deutschland, Frankreich und in die Benelux-Staaten trieb und zwar so, dass die ersten und größten türkischen Kolonien etwa in Paris und Berlin vor allem aus Juden bestanden. Die Türkei beließ diese Menschen in oft ungeklärten konsularischen Statusfragen, so dass bald Abertausende türkischer Juden unter den Einfluss Deutschlands gerieten, sie aber ihrer »neutralen« Staatsangehörigkeit wegen zunächst noch vor Deportationen in die Vernichtungslager geschützt waren. Die kemalistischen Passgesetze besagten, dass ehemalige osmanische Staatsbürger, die nicht am »Befreiungskampf« in den frühen 20er-Jahren teilgenommen hatten, nicht in die Türkei zurückkehren durften.
Mitte des Jahres 1942 stellte die nationalsozialistische deutsche Reichsregierung verschiedenen neutralen Staaten ein Ultimatum, ihre jüdischen Bürger, die noch in Westeuropa lebten, zu repatriieren, so auch im Oktober des Jahres der Türkei. Trotz erheblichem deutschen Druck reagierte die Türkei nicht, räumte indes ein Jahr später, 1943, immerhin ein, begründete Einzelfälle zu prüfen, entzog aber gleichwohl in den Jahren 1942 bis 1944 Tausenden türkischen Juden im besetzten Europa die Staatsbürgerschaft – und das, wie Corry Guttstadt nachweisen kann, dem Umstand zum Trotz, dass man sich in den politischen Kreisen Ankaras spätestens 1943 ein genaues Bild über die Ermordung der in Europa vegetierenden Juden machen konnte. Man wird also im Fall der damaligen türkischen Regierung nicht nur von unterlassener, sondern von wissentlich unterlassener Hilfeleistung sprechen müssen,
Corry Guttstadts ebenso umfassende wie differenzierte Arbeit wird auf Jahre hinaus das Standardwerk zum Thema bleiben.
Vergleicht man endlich die beiden, vom kleinen Hamburger Verlag Assoziation A vorgelegten Studien miteinander, so zeigt sich, dass es in beiden Fällen das Staatsangehörigkeits- und Passrecht gewesen ist, dass sich als Instrument zur tödlichen Preisgabe von Menschen vorzüglich eignete.
Diese Erkenntnis enthält eine Lehre, die für alle, die sich in der Europäischen Union und im Schengen-Raum für die Menschenrechte einsetzen, von besonderer Bedeutung ist: Ohne eine unseren Regierungen und Parlamenten abzufordernde großzügige Handhabung derartiger Re- gelungen können auch wir nicht sicher sein, uns nicht schuldig zu machen.
espen søbye: kathe. deportiert aus norwegen
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2008, 188 S., 18 €
corry guttstatt: die türkei, die juden und der holocaust
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2008, 516 S., 26 €