Die Aussagen des Bundesbankers Thilo Sarrazin über Türken und Araber in Berlin werden von manchen für völkisch, von anderen für notwendig und weiterführend gehalten. Wie auch immer, sie verdienen es, heftig diskutiert zu werden. Dieser Streit hat auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erreicht. So hat der Münchner Historiker Michael Wolffsohn den Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer, im Berliner Tagesspiegel geharnischt dafür kritisiert, Sarrazins Äußerungen mit Meinungen Hitlers gleichgesetzt zu haben. Daran und an der sachlichen Härte von Wolffsohns Einwänden ist nichts auszusetzen. Der ehemalige US-Präsident Harry Truman hat einmal treffend bemerkt: »If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.«
Dennoch hat Wolffsohn eine Linie überschritten und jedes denkbare Minimum jüdischer Streitkultur verletzt, als er Kramers Äußerungen mit dem Hinweis zu entwerten versuchte, dieser sei Konvertit, also im Unterschied zu sogenannten »AltJuden« zum Judentum übergetreten. Wolffsohns Hinweis ist nicht nur ein Verstoß gegen die Regeln öffentlichen Argumentierens, das sich der Sache und nicht der Person zuzuwenden hat, sondern auch ein Vergehen gegen fundamentale Prinzipien jüdischer Ethik, gegen die Halacha. Und zwar gleichgültig, ob man sie orthodox, konservativ oder liberal versteht.
Das Judentum ist weder eine Rasse noch eine Ethnie mit beliebiger Geschichte, sondern eben jene Gemeinschaft, die sich zu dem mit Gott am Sinai geschlossenen Bund verpflichtet hat: auf einen Bund, dem jeder Mensch, sofern er sich geprüft hat und er auch geprüft worden ist, beitreten kann. Von Konvertiten gilt theologisch, dass sie am Sinai dabei gewesen sind.
Aber wie in jeder menschlichen Gemeinschaft blüht auch bei uns Juden Tratsch und Klatsch, regen sich Missgunst und der Wunsch nach Überlegenheit. Was Wunder, wenn man im Konfliktfall die Frage stellt, ob jemand auch wirklich zum Klub gehört? Aber: Das Judentum ist keine Rasse, und der Sinn von Esras Befehl an jüdische Männer, sich von ihren nichtjüdischen Ehefrauen zu trennen, zielte nur darauf, sie vom heidnischen Einfluss zu trennen, nicht aber, ein Volkssubstrat rein zu halten. Das etwa gleichzeitig und als Entgegnung auf Esras Weisung verfasste Buch Ruth stellt in aller Deutlichkeit fest: Nichtjüdische Menschen können geborene Juden an Tugend und Gottesfurcht übertreffen.
Die Rabbinen, die eigentlichen Gründer der jüdischen Religion, wie wir sie heute kennen, sahen das mehrheitlich genauso – die talmudischen Quellen sind in dieser Hinsicht eindeutig: Proselyten sind Juden! Der Babylonische Talmud hält in Yevamot 22a fest, dass Proselyten wie neugeborene jüdische Kinder anzusehen sind, und in Bekorot 30b steht, dass Proselyten, die zu ihrem ursprünglichen Glauben zurückkehren, wie jüdische Abtrünnige anzusehen sind.
Der größte jüdische Philosoph des Mittelalters, Moses Maimonides, schrieb einem von ihm hochgeschätzten Konvertiten namens Obadia: »Wir sollen Vater und Mutter ehren und den Propheten gehorchen, Proselyten aber sollen wir von ganzem Herzen lieben ..., denn: Einen Menschen, der seine Eltern, seinen Geburtsort sowie die Macht seines herrschenden Volkes aufgegeben hat und in vollem Bewusstsein einem Volk beigetreten ist, das verfolgt und missbraucht wird, … den nennt Gott einen Schüler Abrahams«. Denn genau wie dieser habe er seine Eltern und seinen Geburtsort aufgegeben und sich Gott zugewandt.
Tatsächlich vergeht sich, wer Konvertiten abwertet, an der Einheit des jüdischen Volkes und vollzieht eine soziale Ausgrenzung, die zwischen Juden erster und zweiter Klasse unterscheidet. Man muss sich also fragen, ob diese Unterscheidung nicht selbst ethnischen Kriterien folgt und nur deshalb gemacht wird, um unliebsame Meinungen zu desavouieren. Die Reduktion eines Arguments auf die Herkunft seines Vertreters widerspricht allen Regeln einer liberalen, demokratischen Öffentlichkeit. Die bewusste und theologisch auf jeden Fall inakzeptable Ausgrenzung von Juden durch Juden ist mit Sicherheit keine Antwort auf die komplexen Problemlagen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. In diesem Fall passt zwischen die Prinzipien demokratischer Kultur und die Prinzipien des Judentums kein Blatt Papier.
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