Viele Menschen, die vor der Essener Synagoge stehen, befinden sich am falschen Ort. Es ist nicht das riesige Gebäude im Zentrum, nahe Rathaus und Hauptbahnhof, in dem die jüdische Gemeinde ihr Zu-
hause hat. Allein im Hauptraum der Vorkriegs-Synagoge könnte man die aktuellen Mitglieder beinahe zweimal unterbringen, ihr Fassungsvermögen ist noch größer als das der Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin. Doch konnte sie nur 25 Jahre lang genutzt werden. Die Nazis setzten das Haus 1938 in Brand. Die Bombardierung Essens überstand es aber beinahe unversehrt und ist heute ein Dokumentations- und Begegnungszentrum, das bis 2010 zu einem »Haus jüdischer Kultur« weiterentwickelt werden soll. Die jüdische Gemeinde indes hat nach dem Krieg einen neuen Standort im Südostviertel der Stadt gefunden, und dort ist sie nun schon doppelt so lange beheimatet wie an alter Stelle. Vor 50 Jahren, am 21. Oktober 1959, wurden Gemeindezentrum und Synagoge an der Sedanstraße 46 eingeweiht.
Neubeginn Auch hier gibt es eine jüdische Vorgeschichte. Denn auf dem Grundstück der neuen Synagoge stand vor dem 9. November 1938 das jüdische Jugendheim. Als sich die Gemeindemitglieder zur Einweihung des neuen Hauses trafen, sagte Landesrabbiner Ludwig Salomonowicz: »Wir sind der festen Überzeugung, dass in diesem Lande nie wieder eine Synagoge von frevlerischen Menschenhänden vernichtet wird. Wir hätten kein Recht, eine Synagoge hier zu errichten, wenn wir nicht dieser Überzeugung wären.«
Hans-Hermann Byron vom Vorstand der Kultusgemeinde erinnert sich aber an einen Tag, an dem das versucht wurde. Im Jahr 2000 »wollte eine Gruppe von Libanesen die Synagoge angreifen, die Polizei konnte sie nur schwer davon abhalten. Damals hatten wir noch ganz einfache Glastüren und alles war offen. Da hätte sonst was passieren können.« Aber auch sie standen vor der alten Synagoge und wussten nicht, dass es eine neue gibt. Byron zuckt mit den Schultern und scheint nicht recht zu wissen, ob man darüber wenigstens schmunzeln darf. Er macht es nicht.
Rückkehr Mit der Einweihung der neuen Synagoge stieg die Zahl der Gemeindemitglieder auf rund 200. Als im Mai 1945 die ersten Juden nach Essen zurückkehrten, hielten sie ihre Gottesdienste noch in einer Gaststätte und einem Krankenhaus. »Heute haben wir genau 900 und ein Mitglied«, sagt Jewgenij Budnizkij, Vorsitzender der Gemeinde. Dazu kämen noch Familienangehörige aus interreligiösen Ehen, denn auch für die würden die Türen der Gemeinde immer offen sein, betont Budnizkij. Dieses Angebot würden auch viele nutzen, und überhaupt sei das Haus an der Sedanstraße sehr belebt. »An Jom Kippur hatten wir ungefähr 70 Leute.« Auf einen Rabbiner muss man aus finanziellen Gründen verzichten. »Wenn aber jemand einen rabbinischen Rat braucht, dann kommt auch ein Rabbiner«, erklärt Jewgenij Budnizkij.
zukunftspläne Die finanziellen Nöte werden auch an anderen Stellen deutlich. Seit Anfang dieses Jahres konnten sie immerhin etwas gemindert werden. »Wir bekommen nun durch die AG Wohlfahrt, in der wir Mitglied sind, etwas Geld«, er-
zählt der Vorsitzende. Unter dem Strich habe man noch immer ein Defizit, wenn auch ein geringeres. Sorgen hat Budnizkij genug. Nach 50 Jahren hat der Zahn der Zeit am Gemeindezentrum und an der Synagoge genagt. Eine baldige Sanierung ist nötig. »Wir hatten einen Statiker da, weil wir eine Wand in der ersten Etage entfernen wollten, aber ...« – Budnizkij überlegt seine nächste Formulierung – »... aber er hat seine Arbeit zu gut erledigt. Ihm fielen noch viele andere Probleme auf.« Um deren Lösung zu finanzieren, wurde mit Stadt und Land verhandelt, mitten in der Wirtschaftskrise. Das Ergebnis stellte keine Seite zufrieden. Inzwischen konnte man sich auf einen Stufenplan einigen.
»Und zum Jubiläum steckt die Gemeinde immerhin in einem neuen Kleid«, verspricht Hans-Hermann Byron. Schönheitsreparaturen, zum Beispiel an den Treppen zur Synagoge, sind der Anfang. Aber wenn Jewgenij Budnizkij draußen steht, findet sein besorgter Blick keine Ruhe. Von ei-
nem Riss im Beton zeigt er auf den nächs-
ten. Budnizkij sieht das nicht gerne, steckt die zeigenden Finger in die Taschen und möchte nicht in die brüchige Vergangenheit sehen, sondern in die strahlende Zu-
kunft. Die erreicht man über einen Aufgang auf der anderen Seite des Gebäudes. In der ersten Etage empfängt das vergrößerte und renovierte Jugendzentrum »Atid« seine jungen Besucher. »Das bedeutet Zukunft«, erklärt Budnizkij. »Und das hat sie auch ganz bestimmt.«