von Ulrich Schmidt
Eines der meistgelesenen deutschen Literaturstücke und traditionelle Pflichtlektüre im Deutschunterricht ist Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche. Im Mittelpunkt des 1842 erstmals erschienen »Sittengemäldes aus dem gebirgichten Westphalen«, so der Untertitel, steht Friedrich Mergel, aus armen Verhältnissen im Dorfe B. stammend, der den Juden Aaron erschlägt, weil der von ihm geliehenes Geld zurückfordert. Friedrich flieht, kehrt aber 28 Jahre später zurück. Er wird zunächst als der damals mit ihm geflohene Johann Niemand identifiziert. Seine wahre Identität wird erst entdeckt, als er eines Tages tot von der Buche abgeschnitten wird, unter der man sein Opfer einst gefunden hatte.
Droste-Hülshoffs Erzählung beruht auf einem wahren Fall. Nicht nur der im Buch bloß abgekürzt als »Dorf B.« bezeichnete Wohnort des Täters ist benennbar – es handelt sich um das ostwestfälische Bellersen bei Höxter – sondern auch der Mord. Er ereignete sich 1783. Das Opfer hieß Soistmann Berend und lebte als Schutzjude in Ovenhausen, heute ein Teil von Höxter.
Im Westfälischen Freilichtmuseum Detmold ist seit Mitte September das Haus zu besichtigen, in dem Soistmann Behrends Nachkommen lebten. Das Haus ist benannt nach seinen letzten jüdischen Besitzern, der Familie Uhlmann. Bau-Archäologen, Architekten und Historiker haben versucht, anhand dieseses Haus das Alltagsleben der Landjuden in Westfalen zu rekonstruieren. Spuren von Mesusa-Kapseln an den Türrahmen verweisen auf die früheren Besitzer. Sie wurden zusammen mit den anderen jüdischen Bewohnern des Dorfs im Dezember 1941 nach Riga deportiert und später ermordet. Mobiliar und Inventar des Hauses wurden im Frühjahr 1942 versteigert. Nach Beschreibungen von Zeitzeugen hat man das Wohnzimmer mit ähnlichen Möbeln bestückt.
Betritt man das sorgfältig restaurierte Haus – das einzige Wohnhaus jüdischen Ursprungs in einem deutschen Freilichtmuseum – fällt links im Flur die Öffnung für den Laden auf. Rechts vorn war das Wohnzimmer mit einem 1931 angebauten Erker, dahinter lagen die Küche und das elterliche Schlafzimmer. Im Obergeschoss gab es zusätzlichen Wohnraum. In einem Anbau im kleinen Hof war der Ziegenstall untergebracht. Dort befindet sich heute ein Medienraum. Schüler haben eine umfangreiche Literaturliste vorwiegend für ihre Altersgenossen zusammengestellt. Ein etwa 10-minütiger Film informiert über die Geschichte des Hauses und das Schicksal seiner Bewohner.
Die Familie Uhlmann war vor allem durch ihre Adoptivtochter Ilse stark in die Dorfgemeinschaft integriert. Eine Jugendfreundin Ilses gibt zu Protokoll: »Es wurde ihr nichts verboten. Hauptsache das Mädchen war zufrieden. Also die Juden waren da sehr großzügig.« Nicht immer sind die Erinnerungen der Zeitzeugen so klar. Bei ihren Befragungen über das Leben der letzten jüdischen Bewohner des Hauses stieß die Historikerin Gudrun Mitschke-Buchholz zunächst auf ein vielfältiges Bild jüdischen Landlebens. Als es dann aber um die Jahre nach 1933 ging, änderte sich das Aussageverhalten. Erinnerungslücken wollten sich auch dann nicht schließen, als Dokumente vorgelegt wurden. So mochte sich keiner der anonym Befragten daran erinnern, dass nach dem Novemberpogrom 1938 alle männlichen Juden des Dorfs nach Buchenwald verschleppt wurden. Wohl aber wussten die Dorfbewohner noch, dass wenig später die Juden zur Zwangsarbeit in der nahegelegenen Papierfabrik in Godelheim zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren mussten – Kraftfahrzeuge, soweit vorhanden, hatten sie abliefern müssen.
Schwierigkeiten mit der Geschichte haben aber nicht nur Ältere. Kurz nach der Eröffnung, berichtet eine Aufsichtskraft, besichtigte eine Schulklasse von etwa Elf- bis Zwlöf-Jährigen das Haus. Während den Kindern erläutert wurde, was die Schoa war und was den Uhlmanns 1941 widerfahren war, ließ sich ein danebenstehendes Paar laut und deutlich vernehmen: »Die haben doch selber schuld die Juden. Hätten die uns nicht so ausgenommen, würden sie heute noch leben.« Es waren, sagt die Aufsichtskraft, eindeutig Angehörige der Nachkriegsgeneration.
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