von Rabbiner David Bollag
Der kategorische Imperativ gilt als Schöpfung des großen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804). Die besondere Bedeutung Kants beruht zu einem großen Teil auf diesem kategorischen Imperativ, mit dem er die Entwicklung der modernen Ethik, und der aufgeklärten Philosophie überhaupt, initiiert und bis heute spürbar geprägt hat.
Eine der Formulierungen des kategorischen Imperativs lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Kant meint damit, dass die Entscheidung zu einer bestimmten Handlung nur dann als moralisch richtig gelten kann, wenn sie in jeder Situation richtig ist, unabhängig von den Umständen und vor allem vollkommen unabhängig von ihren Folgen. Eine Handlungsweise kann erst als ethisch bezeichnet und als moralisches Gesetz aufgestellt werden, wenn sie a priori immer richtig ist; für alle Menschen, in allen Situationen, zu allen Zeiten und unabhängig von jeglichen anderen Faktoren. Das ist Kants kategorischer Imperativ.
Wir finden dieses Konzept – nach einer Interpretation des Tora-Kommentators Ibn Esra (1089–1164) – schon in der Tora. Ganz am Anfang unserer Parascha, beim Befehl zur Aufstellung eines Gerichtssystems, lesen wir die Aufforderung: »Zedek Zedek tirdof«, auf Deutsch: »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit jage nach« (5. Buch Moses 16, 20).
Gemäß einer Interpretation Ibn Esras bedeutet die Wiederholung des Wortes Zedek hier, dass die Tora dem Menschen befiehlt, der Gerechtigkeit unter allen Umständen nachzujagen, unabhängig davon, ob er dabei etwas gewinnt oder verliert. Eine Gerichtsentscheidung ist immer anzustreben und auch zu akzeptieren, ob man dabei freigesprochen oder verurteilt wird. Gerechtigkeit ist ein Wert an sich, unabhängig von ihren Folgen.
Das Prinzip des kategorischen Imperativs, das heißt eines Gesetzes, das unter allen Umständen und unabhängig von seinen Folgen gelten soll, ist also bedeutend älter als der Philosoph Immanuel Kant und kann schon in der Tora entdeckt werden. Oder anders ausgedrückt: Wir bemerken hier eine interessante Ähnlichkeit und überraschende innere Verwandtschaft zwischen einer Vorschrift der Tora und der Ethik Kants.
Alle rationalistischen jüdischen Denker der vergangenen 200 Jahre haben sich direkt oder indirekt mit der Verwandtschaft zwischen der Ethik der Tora und derjenigen Kants auseinandergesetzt. Während die einen trotz der großen Ähnlichkeit vor allem auf die in ihren Augen noch größeren Unterschiede hinweisen wollten und oft gar von unüberwindbaren grundsätzlichen Widersprüchen zwischen Kant und dem Judentum sprachen, betonten andere hauptsächlich die Gemeinsamkeiten zwischen der Philosophie der Tora und dem Denken Kants. Vor allem die Vordenker des Reformjudentums haben sich bei der Entwicklung der Gesetzesphilosophie dieser neuen Bewegung sehr stark auf Kants Ethik bezogen und sich auf sie gestützt. Doch auch innerhalb der Orthodoxie ist der Bezug zu Kant häufig hergestellt worden.
Der herausragendste, einflussreichste und berühmteste jüdische Neo-Kantianer der vergangenen 150 Jahre war Hermann Cohen (1842–1918). In vielen seiner zahlreichen Schriften ist er der Frage des Verhältnisses zwischen Kant und dem Judentum systematisch nachgegangen und hat diesem Thema einen besonderen Vortrag mit dem Titel »Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum« gewidmet. Cohen erwähnt in diesem Vortrag, der in seinen Jüdischen Schriften (I, 284-305) abgedruckt ist, natürlich auch den kategorischen Imperativ Kants und den in ihm – wie oben zitiert – enthaltenen Ausdruck des »allgemeinen Gesetzes«. Cohen bemerkt dazu: »Es ist, als ob Kant diesen Ausdruck von einem jüdischen Philosophen und im Talmud selbst vernommen hätte«.
Für Cohen ist die Verwandtschaft der Kantschen Ethik, wie sie im kategorischen Imperativ und im allgemeinen Gesetz zum Ausdruck kommt, mit dem jüdischen Religionsgesetz derart eng, dass er in Betracht zieht, Kant könnte direkt von jüdischen Quellen beeinflusst worden sein; er habe den kategorischen Imperativ, auf welchem seine ganze Ethik aufbaut, direkt von der Tora übernommen!
Cohen betont mit dieser gewagten Spekulation auch die Wichtigkeit, die er dem kategorischen Imperativ in der Tora beimisst. Er lässt uns verstehen, dass die Vorschriften der Tora als »allgemeine Gesetze« gelten, die unabhängig von ihren Folgen beachtet werden sollen. Er impliziert damit beispielsweise, dass die Vorschriften von Schabbat und Kaschrut ihre Verbindlichkeit auch dann haben, wenn sie uns zusätzliche Kosten verursachen oder wenn sie verhindern, dass wir (noch) mehr Geld verdienen.
Cohen lenkt damit unsere Aufmerksamkeit auf einen Punkt, der im heutigen Umgang mit der Halacha häufig zu wenig beachtet wird. Er erinnert uns daran, dass der kategorische Imperativ schon in der Tora zu finden ist und dass ihre Vorschriften als allgemeine Gesetze zu befolgen sind.
Der Autor lehrt an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg sowie an den Universitäten Zürich und Luzern. Den Text entnahmen wir dem Band »Mismor LeDavid. Rabbinische Betrachtungen zum Wochenabschnitt« (Verlag Morascha, Basel 2007).