Dienstags haben wir immer unseren Russischen Abend. Heute ist wieder so ein Tag, diesmal kommt die Düsseldorfer Integrationsbeauftragte zu uns ins Kulturzentrum »Raduga«. Sie erzählt, was die Stadt für die russischsprachigen Zuwanderer unternimmt. Wir erwarten zwischen 20 und 100 Besucher. An einem weiteren Dienstagabend haben wir eine Berufsberatung für Ingenieure und Techniker vorbereitet. In der Woche danach gibt es ein Kinderfest mit Puppentheater, in der dritten Woche haben wir ein Treffen mit einer russischsprachigen Zahnärztin verabredet. Wir haben über 20 Veranstaltungen pro Monat. Das organisieren mein Mann Wjatscheslaw Lissin und ich mithilfe von 20 Ehrenamtlichen.
Unser Kulturzentrum gibt es seit zwölf Jahren. »Ra-duga« heißt auf Russisch »Regenbogen«, ein Symbol für neues Leben nach dem Regen, für Hoffnung und Schönheit. Mein Mann und ich haben das Zentrum gegründet und die ersten Jahre nur aus eigener Kraft betrieben. Wir sind 1991 nach Deutschland gekommen und hatten eine Reihe Erfahrungen gemacht: schlechte und gute.
Wir waren damals ohne Sprache, ohne Geld, ohne Verwandte und Bekannte, ohne Arbeit, ohne alles. Wir konnten mit niemandem darüber sprechen. Es gab Anfang der 90er-Jahre sehr wenige Leute in Düsseldorf, die Russisch verstanden. Wir haben alles selbst gemacht – und sind ab und zu auf die Nase gefallen. Als wir unsere erste Wohnung bezogen hatten, erkannten wir, dass unser Vermieter einen großen Hass gegen Ausländer hegte. Wir waren gezwungen, nach neun Monaten auszuziehen und etwas anderes zu suchen. Als meine Tochter sich ein Bein gebrochen hatte, konnte ich noch kein Wort Deutsch. Ich habe viel geweint, es war schrecklich für mich, weil ich nicht verstand, was jetzt mit meiner Tochter passieren soll. Auch deshalb haben wir entschieden, dass wir unbedingt eine Stelle gründen sollten, wo unsere Landsleute Hilfe bekommen.
Aus der Heimat habe ich viele Berufe mitgebracht: Musiklehrerin, Theaterregisseurin, Schauspielerin und Sängerin. Ich habe in Moskau studiert und dort im Kino und im Theater gearbeitet. Auch mein Mann ist gelernter Schauspieler und Regisseur. Hier in Deutschland arbeite ich als Sozialpädagogin. Das habe ich mir selbst beigebracht – durch die Praxis. Kunst und Kultur sind aus unserer Sicht Integrationsmittel. Unsere Leute brauchen Hilfe – und das Zusammensein. Sie sollen die Herkunftskultur nicht vergessen, sich aber gleichzeitig die neue Kultur eröffnen. Wir wollen ihnen eine Brücke zwischen beiden bauen – einen Regenbogen eben.
Jeden Montag, Mittwoch und Donnerstag haben wir Sprechstunde in der Sozialberatung. Montagnachmittag kommen die Integrations-Scouts zu einem Weiterbildungsseminar. Das sind zehn Landsleute, die schon gut Deutsch sprechen. Sie begleiten unsere Kunden zu den Ämtern oder zum Arzt, dolmetschen für sie und helfen, Probleme zu lösen. Wir bieten Deutsch- und Computerkurse an, haben hier einen Chor, eine Frauengruppe, einen Kinderclub und ein Orchester. Zudem müssen wir den Papierkram und die Vorbereitungen für den neuen Monat machen, die vielen Mails beantworten. Es ist schwer, etwas über unsere Arbeitszeit zu sagen: Von morgens bis abends haben wir zu tun, das ist unser Leben. Wir haben die Möglichkeit, unsere Pläne, unsere Ideen zu verwirklichen, das ist uns sehr wichtig. Unsere Tochter ist schon erwachsen. Sie arbeitet als Schauspielerin und Tänzerin. Wir haben jetzt also Zeit für unsere Arbeit. Arbeit ist für uns wie ein Hobby.
Die Woche ist sehr, sehr voll, und samstags machen wir Theater. Wir proben einmal wöchentlich drei Stunden – und wenn es sein muss, auch mehr. Das Theater heißt »Kulisse«, von unseren beiden Nachnamen Kunina und Lissin. Bei uns spielen Profis und Laien zusammen, im Moment sind wir 25 Leute. Die Profis bilden den Kern, die Laien können viel von ihnen lernen. Sie kommen von Schulen, von der Uni, aus verschiedenen Städten. Auch drei Rentner sind dabei. Wir spielen nicht nur Stücke auf Russisch, sondern manchmal auch auf Deutsch. Gerade bereiten wir eine Komödie des russischen Klassikers Alexander Ostrowsky vor und dazu die politische Satire »Striptease« von Slawomir Mrosek. Da unsere Stücke immer sehr aktuell sind, haben wir einen richtigen Fanclub. Über den Nachwuchs machen wir uns keine Sorgen: Wir haben auch eine Kindertruppe.
Sonntags machen wir Politik. Seit acht Jahren, also zwei Wahlperioden, sind wir beide Mitglieder des Ausländerbeirats. Mein Mann ist stellvertretender Vorsitzender, und ich bin im Ausschuss für Frauen, Kinder und Jugendliche. Es gibt viele Themen zu beackern und viele Veranstaltungen, an denen wir teilnehmen müssen. Derzeit wird diskutiert, ob aus dem Ausländerbeirat ein Integrationsrat werden soll. Der würde dann mehr Rechte, aber weniger »Ausländer« haben. Da müssen wir noch überlegen, ob wir ein drittes Mal kandidieren. Ich wünsche den Mitgliedern des Ausländerbeirats und mir mehr Kontakte zu deutschen Behörden und Politikern sowie jedem Ausländer mehr Kontakte zu deutschen Nachbarn. Wir persönlich schätzen jeden freundlichen Menschen. Wir haben im Laufe der Jahre gelernt, dass unser Leben von unseren persönlichen Beziehungen zu anderen abhängig ist.
Es hat drei Jahre gedauert, bis wir Leute von »Raduga« endlich einen Termin beim inzwischen verstorbenen Oberbürgermeister bekamen. Die ganze Nacht haben wir uns vorbereitet. Das hat uns sehr viele Nerven gekostet. Aber der OB hat über eine Stunde mit uns gesprochen, er war sehr freundlich und professionell. Dann hat er gesagt: »Ok, ich habe verstanden, unsere Stadt braucht Ihre Arbeit. Wir werden Ihnen helfen.« Seitdem bekommen wir Unterstützung von der Stadt für unsere Tätigkeit als Sozialberater und für unsere Projekte. Dazu moralischen Beistand. Auch der ist wichtig.
Wir haben in den vergangenen Jahren auch mehrere Gespräche mit verschiedenen Wohlfahrtsorganisationen geführt, aber die meisten hatten kein Verständnis für uns. Nur die Diakonie wollte mit uns zusam- menarbeiten. Auch von der Jüdischen Gemeinde haben wir damals keine Unterstützung bekommen, obwohl ich Gemeindemitglied bin. Unser Ansprechpartner sagte: »Wir brauchen keine russische Sache.« Diese Einstellung hat sich, glaube ich, inzwischen geändert, und ich hoffe, dass sich unsere Kontakte zur Jüdischen Gemeinde weiterentwickeln.
Ich bin zwar Mitglied der Gemeinde, aber nicht religiös. Doch ich begehe manches Fest: Pessach oder Jom Kippur – das, woran ich mich aus meiner Kindheit erinnere. In Moskau gab es nicht viele religiöse Juden. Es war ja auch verboten in der kommunistischen Zeit. Meine Eltern waren Musiker und Schauspieler. Sie waren nicht religiös. Aber meine Oma, die war eine fromme Frau. Ich erinnere mich an einige Rituale von ihr. Daran halte ich mich gern. Aber anderes ist schwierig. Ich bin schon 59 – zu alt, um mich zu ändern.
Wenn wir mal frei haben, fotografiert mein Mann. Er hatte schon vier Ausstellungen. Ich setze mich zur Entspannung ans Klavier oder schreibe Lieder und Gedichte. Vor drei Jahren habe ich einen Lyrikband herausgegeben: Herz entzwei. Der ein Teil ist in Moskau, der andere am Rhein. Einmal im Jahr fliege ich nach Russland. Gott sei Dank ist das kein Problem mehr. Ich habe da meine Freunde und ehemalige Kollegen. Aber ganz ehrlich: Ich fühle mich jetzt in Düsseldorf wohler als in Moskau, auch wenn das meine Heimatstadt ist. Als wir Russland verließen, steckte das Land in einer Krise. Es war eine schwierige Zeit, kurz vor dem Militärputsch. Viel Kriminalität und Antisemitismus. Seit 17 Jahren leben wir in Düsseldorf, und ich denke, es war der richtige Schritt.
Für die Zukunft wünsche ich mir Entwicklung, neue Ideen und größere Räume für »Raduga« – und etwas mehr Zeit fürs Privatleben.
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda