Kosovo

»Unsere Existenz ist ein Desaster«

von Dinah Spritzer

In einer verlassenen Straße mit zahlreichen halb fertig gebauten Häusern denkt Ines Quono über ihr schwieriges Leben nach in einem Land, das für die meisten Europäer sehr weit weg ist. Auf dem verfallenen, schlammigen Gehweg häuft sich Müll. »Das Einzige, was im Kosovo funktioniert, sind die Banken. Wir müssen alle Geld borgen«, sagt die 28-jährige Quono. Sie gehört zu den letzten Juden im Kosovo. Ihre Zukunft ist ungewiss, sie müssen sich entscheiden, ob ihr Schicksal in Israel oder in Südosteuropa liegt, wo ihre Wurzeln bis zur spanischen Inquisition zurückreichen, als tausende Juden in die Länder des Balkans flo- hen. Im Kosovo gibt es heute noch etwa 50 Juden. Sie gehören drei Familien an, die alle in der Stadt Prizren leben.
90 Prozent der 2,2 Millionen Einwohner des Kosovo sind muslimische Albaner, die zum überwiegenden Teil säkular leben. Korruption, Kriminalität und der Mangel an ausländischen Investitionen bestimmten das Leben in dem Land während der vergangenen neun Jahre, in denen alle Verhandlungen zwischen Serbien und den albanischen Führern des Kosovo über den endgültigen Status der Provinz scheiterten.
Mit Zustimmung der USA und der meisten EU-Länder hat der Ministerpräsident des Kosovo am vergangenen Wochenende die Unabhängigkeit erklärt – gegen den erbitterten Widerstand Serbiens.
Die Stimmung unter den Juden von Prizren ist düster. Jetzt, da sich das Kosovo von Serbien losgelöst hat, fällt es Menschen wie Quonos Vater Votim Demiri trotz der Angst vor zunehmenden Spannungen mit den Nachbarn schwer, die Häuser zu verlassen, die sie selbst gebaut oder renoviert haben.
»In der Vergangenheit gab es hier keinen Antisemitismus«, sagt Demiri. Aber neuerdings versuchen saudische Geistliche, die fundamentalistische islamische Ideologie in die Balkanländer zu exportieren – bislang mit mäßigem Erfolg. Die größte Sorge haben die Juden hier mit den meisten Kosovaren gemeinsam: Wie sollen sie ihre Familien ernähren? Sie erhalten zwar Hilfe vom American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), das Sozialeinrichtungen betreibt, an jüdischen Feiertagen Feiern veranstaltet und versucht, bei der Jobsuche zu helfen. Doch die Juden sind Außenseiter in einem von Albanern beherrschten Quasistaat. Und die wenigen Jobs, die es gibt, verteilten die Albaner an Freunde und Familie, so Robert Djerassi vom JDC, der die Aktivitäten der Organisation im Kosovo leitet. Neunzig Prozent der Juden in Prizren sind arbeitslos.
»Unsere Existenz ist ein Desaster«, meint Demiri und deutet auf sein morsches Dach. Seine Kinder bereiten sich auf die Auswanderung nach Israel vor. Quonos Schwester Teuta verbrachte kürzlich ein Jahr in einem Kibbuz, wo sie Hebräisch lernte. Sie kann sich vorstellen, Alija zu machen, doch sie weiß nicht, ob sie in Israel Arbeit finden wird. Inzwischen hat auch ihr Bruder angefangen, Hebräisch zu lernen.
Demiri sagt: »Ich habe acht Jahre darüber nachgedacht, ob ich nach Israel gehen soll oder nicht.« Seine Mutter war nach der Schoa nach Palästina ausgewandert, während ihre Kinder in Europa beim Aufbau eines sozialistischen Staats mithelfen wollten. Demiri stammt aus einer Generation von Juden, die sich voller Nostalgie an das Leben in Jugoslawien zurückerinnern. Als ehemaliger Leiter einer Textilfabrik war er in den vergangenen zwanzig Jahren die meiste Zeit arbeitslos.
Für Demiris Cousin Ulvi Zhalta ist es weniger die Sorge um Arbeit, die die Alija erschwert. Er hat vor sieben Jahren einen Auswanderungsantrag gestellt, aber bis heute noch keine Antwort von der Jewish Agency. Wie viele Juden in Prizren war seine Mutter mit einem Albaner verheiratet. »Sie wurde auf einem muslimischen Friedhof begraben, denn es gibt hier keine jüdischen Friedhöfe, aber sie war Mitglied der jüdischen Gemeinde Belgrads«.

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