Bald ziehe ich in meinen neuen Laden ein. Obwohl viele Kunden immer wieder sagen, wie urig diese alte Metzgerei ist, hat es den Einnahmen auf Dauer nicht gutgetan. Anfangs habe ich am Tag 250 bis 300 Euro eingenommen, doch dann ging es abwärts, und am schlechtesten Tag kamen gerade mal drei Euro in die Kasse. Das war eine harte Zeit. Natürlich ist Pferdefleisch nicht jedermanns Sache, doch in der anderen Pferdemetzgerei, in der ich zuvor arbeitete, lief es ja auch gut. Als ich mal richtig am Ende war, schmiss ich die Ware auf die Straße und rief: »Wenn ihr schon nicht bei mir kaufen wollt, dann nehmt sie doch geschenkt.« Im Laden ging ich an den Regalen entlang und räumte mit einer Hand alles ab, das war filmreif. Meine Tochter kam und sah das Chaos, beruhigte mich, sprach mir Mut zu. Ich habe gebetet, Er möge mir Kraft geben. Ich musste etwas unternehmen.
Oft blieben Passanten vor dem Geschäft stehen, schauten auf die Ware, gingen nach einer Weile aber weiter. Ich lief ihnen nach und fragte, warum sie nicht reingekommen seien. Sie sagten, dass meine Ware gut aussieht, aber mein Laden nicht einladend wirkt. Das musste ich ändern. Nun habe ich ein neues Geschäft gemietet. Ich will es hell und freundlich gestalten, und weil es auch größer ist, will ich einen ständigen Verzehrbereich einrichten.
Wie eine Frau wie ich zum Pferdefleisch kommt? Als ich noch klein war, sah ich immer die Würstchenbuden und wollte aus Neugier unbedingt mal eine Currywurst probieren. Dass sie aus Schweinefleisch war, störte mich nicht. Sie schmeckte gut, und von da an gönnte ich mir immer wieder mal eine. Eines Tages sah das mein Vater. Er riss mir die Schale aus der Hand, schmiss sie zu Boden und spuckte darauf. In seiner Anwesenheit durften wir kein Schweinefleisch essen. Er war nicht religiös, sondern eher traditionell – und sehr schweigsam. Wir aßen daheim nicht koscher, aber kein Schweinefleisch. Aus heutiger Sicht bin ich eher streng aufgewachsen. Bis ich 18 war, musste ich bis um 22 Uhr zu Hause sein, sonst gab es drei Monate Arrest. Von meinem Vater bekam ich zwei Mark für die Disco. Bevor ich ging, gab er mir Folgendes mit auf den Weg: »Wenn du gut bist, bringst du das Geld wieder mit nach Hause.« Ich war eine gute Tochter. Und ich war hübsch.
Als ich mich später für die Lebensmittelbranche entschied, entdeckte ich diese spezielle Nische der Pferdefleischer. Früher gab es in Köln wie andernorts unzählige Pferdemetzgereien. Heute bestehen nur noch zwei Geschäfte, eines davon ist meine Pferdemetzgerei »Galopp«. Mit meiner Konkurrentin führe ich so eine Art Fernduell. Bis vor vier Jahren habe ich bei ihr gearbeitet, doch einige Dinge gefielen mir nicht. Wenn ich im Laden stand, waren die Umsätze hoch, das konnte ich an den Kassenbüchern sehen. Ich habe halt eine andere Auffassung von Kundennähe. Zum Beispiel lasse ich die Leute gerne probieren, denn sie sollen die Produkte ja kennenlernen. Aus meiner Sicht entstehen dadurch keine Verluste, sondern man gewinnt Kunden hinzu.
Der Renner in meinem Geschäft sind unsere Knoblauchfleischwurst, das Rauchfleisch, die Brühwurst und der berühmte Sauerbraten. Neu im Programm habe ich jetzt die Paprikamettwurst. Ein Mitarbeiter, der aus Nürnberg stammt, hatte diese Idee, weil man dort viele Wurstsorten stark mit Paprika würzt. Die Stammkunden loben diese neue Kreation. Paprika in der Wurst ist bei uns nicht populär, bis sich die hier durchsetzt, das wird dauern. Deshalb biete ich die Mettwurst mit Brötchen für 1,50 Euro an. Die besten Einfälle habe ich nachts. Auf meinem Nachttisch liegt immer ein kleines Büchlein bereit, in dem ich meine Ideen notiere, um sie nicht zu vergessen.
Ich lebe von meinen Stammkunden. Ich schaue nur nach vorn, und meine Tiefpunkte sind vergessen. Hier ist alles bezahlt, darauf bin ich stolz. Manchmal erkenne ich mich selbst nicht wieder und freue mich, einen neuen Optimismus zu haben. Jeden Morgen bete ich. Ich bitte Ihn, mir zu helfen und mir Kraft zu geben. Ich glaube, Er hat mich erhört. Kürzlich meldete sich ein ehemaliger Pferdemetzgermeister bei mir, er will nach seinem heiligen Familienrezept Wurst herstellen und mich beliefern, obwohl er sein Geschäft schon vor Jahren aufgegeben hat.
Juden kommen hier nicht einkaufen, jedenfalls ist mir das nicht aufgefallen. Auch wenn meine Mutter nicht jüdischer Herkunft ist, und die Leser jetzt wahrscheinlich aufheulen, fühle ich mich als Jüdin, besonders, wenn es ums Geschäft geht. Ja, ich sage Ihnen auch warum. Meine Eltern haben sich im Krieg auf einem polnischen Bahnhof während eines Fliegerangriffs kennengelernt. Mein Vater war als Jude in einem Lager. Meine Eltern kamen durch, trafen sich wieder, und ich wurde 1950 geboren. Mein Vater machte sich aus dem Staub und ging nach Israel. Doch meine Mutter reiste ihm nach und gewann ihn zurück. Damals lebten wir in Jerusalem in sehr ärmlichen Verhältnissen. Es war eine schwere Zeit. 1956 entschlossen sich meine Eltern, nach Deutschland zurückzukehren, so kamen wir nach Köln. In der Schule durfte ich unsere Geschichte nicht erzählen, schon gar nicht, dass wir aus Israel kamen. Es hieß immer: »Psst, du darfst nichts sagen.«
Juden waren nie gut gelitten, das spürte ich schon als Kind. Mein Vater arbeitete in einem Postamt und war bei den Kollegen sehr beliebt, doch sie wussten von nichts. Vater blühte regelrecht auf. Wir bewohnten eine Postwohnung. Als Tarnung wollte mich mein Vater taufen lassen, doch als man unsere Herkunft erfragte, sagte man: »Wir haben keine Zeit.« Eine Kölnerin meinte letztens zu mir: »Du bist ja wie ne Jüd.« Ich antwortete: »Vielleicht bin ich eine«, und sie entgegnete: »Dann käme ich nicht rein.« Ich habe mir gedacht: »Wenn du wüsstest.« Ich stehe zwischen den Stühlen, und ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich lasse mir deshalb auch nicht vorschreiben, zu wem ich gehören darf und zu wem nicht.
Für die Steigerung meines Bekanntheitsgrades habe ich eine neue Idee: Ich gehe auf Wochenendmärkte, die sind hier sehr gut besucht. Mein sogenannter »Pferdefleischprobetag« kommt sehr gut an. Lustig ist vor allem, wenn Kunden erst nach dem Verzehr fragen, was für ein Fleisch das denn sei. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass bei mir alles vom Pferd ist. Es gibt dann die unterschiedlichsten Reaktionen. Bei Pferdefleisch denken viele an niedliche Ponys. Pferde sind den meisten Menschen näher als Rinder, Hühner oder Schweine. Dabei gilt Pferdefleisch als äußerst rein und ist allein deshalb schon gesünder, weil es fettarm ist. Ein Nachteil für den Verkauf ist natürlich, dass Pferdefleisch sehr schnell dunkelt. Kaum angeschnitten, ist es schon nach kurzer Zeit nicht mehr rosa, sondern dunkel. Das hat aber nichts mit der Qualität zu tun.
Was mir bis heute leidtut, ist, dass wir Vaters KZ-Nummer am Arm nicht wegbekamen. Wir gingen zu einem uns bekannten Arzt, der sehr freundlich war. Als er sah, worum es ging, sagte er, er hätte gerade keine Zeit, und wir sollen uns einen Termin geben lassen. Aus dem Termin wurde nichts. Wir fanden mit Mühe und Not einen Arzt, der die Tätowierung für 3.800 Mark entfernt hätte. Das war eine enorme Summe vor 25 Jahren! Ich bin bis heute so wütend, dass wir für das Entfernen dieser Scheißnummer so viel zahlen sollten. Mein Vater war schon in der Gaskammer, doch er war der Letzte in der Reihe und trotz Schieben und Drücken ging die Tür nicht zu. So musste er wieder raus, das war sein Glück.
Gerade dieser Tage, wo Israel oft in den Medien ist, denke ich an meine Kindheit und die späteren Besuche dort zurück. Das Land hat sich enorm entwickelt. Was mir persönlich an Israel gefällt, ist, dass dort alles irgendwie authentischer ist. In Israel bist du das, was du in der Tasche hast. Aber dort wird nicht damit geprahlt wie in Deutschland. Die Hierarchien sind dort nicht so wie hier, man ist enger beieinander, nicht nur räumlich, sondern auch menschlich. Wenn ich hier Leute über Israel und das Judentum reden höre, genieße ich es manchmal, einfach mal zuzuhören. Denn Sie wissen ja: »Psst, du darfst nichts sagen.« Ich hoffe, Sie verstehen meinen Humor. Übrigens kam meine Konkurrentin die Tage zu mir und fragte mich, ob ich nicht ihren Laden übernehmen wolle. Ob ich ihr raten soll, es mal mit Beten zu versuchen?
Aufgezeichnet von Frank Rothert