Feiertagsessen

Und ewig dampft der Tscholent

von Beni Frenkel

Mein persönliches jüdisches neues Jahr wird nicht gut beginnen. Kulinarisch gesehen meine ich. Wie jedes Jahr bin ich zum Abendessen bei einem religiösen Paar eingeladen. Sicher kennen Sie den Brauch, dass man bei der ersten Mahlzeit des jüdischen Jahres den Apfel in Honig eintunkt, damit das Jahr süß beginnt. Schön. Bei den Leuten aber, bei denen ich esse, wird nebst Apfel und Honig auch ein Fischkopf auf den Tisch gestellt. Direkt links neben mir. Dort steht dann der Kopf mit aufgerissenem Maul und starrt mich eindringlich aus toten Augen an. Der Hausherr schneidet ein Stück des Kopfs ab, und sagt auf Hebräisch das Gebet: »Es sei Dein Wille, oh Ewiger, dass wir beim Kopf und nicht beim Schwanz landen.« Ich sage Amen, schaue den Fischkopf an und sage in Gedanken: Mich musst du nicht so anstarren, ich habe dich nicht gefangen und will nichts von dir essen.
Ich will eigentlich überhaupt nichts mehr essen. An jüdischen Feiertagen sowieso nicht. An Pessach muss man Bitterkraut runterschlucken, bis einem die Luft knapp wird, an Schawuot gibt’s nur milchige Speisen, beim Laubhüttenfest löffelt man Suppe und friert sich in der ungeheizten Sukka den Arsch ab und an Rosch Haschana schaut dir ein Fischkopf beim Essen zu.
Woher diese jüdische Neigung zu schlechtem Essen? Warum hat das auserwählte Volk nicht einen einzigen Paul Bocuse zustande gebracht? Es liegt wohl daran, dass das Volk des Buches seine Köpfe lieber über Folianten als über Kochtöpfe beugt. Ich denke aber, es hat auch etwas mit Sex zu tun. Das Judentum hat ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität. Während die katholische Kirche das Zölibat, die Enthaltsamkeit schlechthin, als engste Bindung der Geistlichen zum lieben Gott versteht, schreibt die jüdische Lehre Rabbinern vor, dass sie verheiratet sein müssen. Und nicht nur heiraten müssen sie, sondern auch die Bestimmungen der Ketuba, des jüdischen Ehevertrags, einhalten, der den Mann verpflichtet, seine Frau regelmäßig zu beglücken.
Wie in der Liebe, so auch beim Speisen. Das Judentum ist kein Freund der Askese. In unseren Schriften heißt es, dass das Essen vor Jom Kippur gleich heilig ist wie das Fasten danach. Fasten außerhalb der dafür vorgeschriebenen Feiertage gilt als fragwürdig und wird abgelehnt. Fragen Sie jeden Rabbiner. Apropos Rabbiner. Bei jeder Brit Mila, Bar Mizwa oder Hochzeit sitzt er mit am Festtisch und tut sich an den Speisen gütlich, sehr gütlich.
Wir Juden essen eben gern reichlich. Auf Feinheiten kommt es uns dabei allerdings nicht an. Kulinarisch ausgedrückt sind wir Gourmands und nicht Gourmets. Wenn unsere Vorfahren bei ihrer Wüstenwanderung gegen Gott murrten, dann nur deshalb, weil es nicht genug zu essen gab. Im Judentum soll jeder satt werden.
Diese Saturiertheit aber führt zu Stillstand. Wenn alle mit dem glücklich sind, was auf den Tisch kommt, kann sich keine Küche entwickeln, die Erneuerungen hervorbringt. Frankreich hat die Nouvelle Cuisine, wir den schon erwähnten Tscholent, eine klebrige Brühe mit Gemüseresten, die symbolhaft für die Einfallslosigkeit jüdischer Kochlöffelkunst steht. Deshalb kommen jüdische Restaurants auch nie auf einen grünen Zweig. Was haben wir schon, das wir den Gojim schmackhaft machen könnten? Hat es in den vergangenen 5767 Jahren einen Fall gegeben, wo jemand jüdisch wurde, weil es bei uns so gutes Essen gibt? Susi sagt »Ich geh zum Italiener«, Christina fragt »Kommst du mit zum Griechen?«, aber keine Sarah lockt »Lass’ uns zum Juden gehen!« In jeder Straße gibt es mittlerweile japanische Restaurants, die Sushi und Saschimi servieren. Wir Juden löffeln derweil seit sicher mehr als 200 Jahren Gefillten Fisch aus dem Glas. Panik kommt bei mir immer auf, wenn nichtjüdische Freunde zu Besuch kommen und sagen: »Beni, koch uns doch mal etwas typisch Jüdisches!« Was ist »typisch jüdisch«? Tscholent, Mazzenknödel und Gefillte Fisch. Welcher normale Mensch will so etwas essen? Ich serviere dann immer koschere Tiefkühlpizza.
Schlimm steht es auch um die Koscherläden. Koscherläden riechen muffig. Seit ich mich erinnern kann, stehen die gleichen Produkte in den Regalen. Abgelaufene Koscherbutter zum halben Preis, koscheres Nutella-Imitat, Kekse, die wie Notrationen für Astronauten aussehen, Suppengewürze, die immer noch in 70er-Jahre-Verpackung daher kommen. Neben der Kasse liegen Bücher, Musikträger und Schmonzes zum Verkauf und – eine Frechheit sondergleichen – es stehen Sammelbüchsen für Wohltätigkeit. Als hätte man nicht schon genug Geld für die überteuerten Koscher-Artikel abgedrückt.
Doch zurück zum Fischkopf. Es geht noch schlimmer. Beim ersten Rosch-Haschana-Essen in meiner Jeschiwe stellte das Küchenpersonal einen Rindskopf auf unseren Tisch. Ich saß schon damals– verdammt – neben dem Kopf und musste zugucken, wie meine Kameraden ihn aushöhlten. Die Szenerie ähnelte dem Schlussbild jedes Asterix-Bands, wo am Ende die ganze Dorfbevölkerung gebratene Wildschweine verzehrt. Wildschwein schmeckt aber bestimmt besser als Rindskopf, ist nur leider nicht koscher.
In der Jeschiwe habe ich auch zum ersten Mal Darwins Evolutionsbiologie verstanden. Allerdings hieß es dort nicht »Survival of the Fittest«, sondern »Survival of the Fattest«. Nur die Zöglinge wurden groß und fett, die am ungeniertesten den Rindskopf abnagten. Und bei den Fischen – die wurden auch serviert - sicherten sich die Stärksten und Schnellsten die Fischaugen und wurden, so ein Aberglaube, gescheit durch deren Verzehr.
Was mir in der Jeschiwe auch auffiel: unsere miserablen Tischmanieren. Es war sicher kein Jude, der Messerbänkchen, Tropfenfänger, Vorlegemesser und Fischbesteck erfunden hat. Dabei enthält der Schulchan Aruch, der jüdische Gesetzeskodex, eine ganze Reihe von Regeln über die Art und Weise, wie man isst: So soll man nicht im Stehen essen oder trinken, ein Glas Wein nicht in einem Zug leer saufen und während des Essens keine Reden führen. Es hält sich leider nur niemand dran. (Zur Ehrenrettung der Jeschiwe muss ich sagen, dass es in gojischen Mensen beim Essen keinen Deut gesitteter zugeht.)
Vielleicht sind Tischmanieren der einzige Bereich, wo selbst Gott nicht an uns herankommt. Wir arbeiten Ihm zuliebe nicht am Schabbat, wir fasten, wenn es sein muss und wir beten auch schön fleißig. Aber wo schon unsere Mütter versagt haben, nämlich uns beizubringen, wie man zivilisiert Speisen zu sich nimmt, da muss auch der Ewige kopfschüttelnd das Feld räumen.
Aber ein bisschen ist Er auch selber schuld. Wenn man dem auserwählten Volk die Speisenzubereitung so schwer macht mit Dutzenden von komplizierten Regeln und Verboten, darf man sich nicht groß wundern. Alles braucht länger, bis es fertig ist, so dass die Leute, wenn das Essen dann endlich auf dem Tisch steht, sich halb verhungert darauf stürzen als gäbe es kein Morgen und keine Manieren.
Doch das muss nicht sein. Ich jedenfalls habe mir vorgenommen, dieses Jahr an Rosch Haschana dem da oben und meiner Frau zu beweisen, dass ich mich sehr wohl bei Tisch benehmen kann.
Aber nur wenn es nicht wieder Tscholent gibt!

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