von Michael Brenner
Leo-Baeck-Institut, Leo-Baeck-Schule, Leo-Baeck-College, Leo-Baeck-Haus, Leo-Baeck-Preis – die Zahl der nach der letzten geistigen und politischen Führungsfigur des ver- nichteten deutschen Judentums benannten Institutionen in Deutschland, Israel, England und den USA ist schier unerschöpflich. War im 19. Jahrhundert Moses Mendelssohn der Held aller religiösen Richtun- gen im deutschen Judentum gewesen, so fiel diese Rolle später Leo Baeck zu. Liberale und traditionelle Juden, Zionisten und Diasporaanhänger – sie alle berufen sich auf den Berliner Rabbiner, der die deutschen Juden bis ins KZ Theresienstadt begleitete und im Londoner Exil seine letzten Lebensjahre verbrachte.
Was macht die besondere Anziehungskraft des Namens Leo Baeck aus? Selbstverständlich gehören seine religionsphilosophischen Schriften zu den wichtigsten geis- tigen Produkten des deutschen Judentums im 20. Jahrhundert. Natürlich zeigten seine seelsorgerische Tätigkeit bis zu seinen Vorträgen in Theresienstadt Wirkung. Und gewiss nahm er als politischer Repräsentant in schwerster Zeit verantwortungsvoll eine heikle Aufgabe wahr. Der Grund für seine breite Popularität lag aber vor allem in seiner Fähigkeit, Brücken zu bauen.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war Baeck in vielfacher Hinsicht in Erscheinung getreten. Als die deutschen Rabbiner 1897 gegen die Abhaltung des Ersten Zionistenkongresses in Deutschland protestierten, gehörte Baeck als einer der wenigen unter seinen Kollegen nicht zu den von Theodor Herzl so titulierten »Protestrabbinern«. Mit gut dreißig Jahren hatte er 1905 in seiner Schrift Das Wesen des Judentums die klarste Positionsbestimmung des modernen Judentums geliefert. Baeck diente seit dem Vorabend des Weltkriegs nicht nur als Gemeinderabbiner in Berlin, sondern auch als angesehener Professor an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums und hinterließ einen bleibenden Eindruck als Feldrabbiner. Doch erst nach dem Weltkrieg entfaltete er jene Führungsqualitäten, die ihn in besseren wie in schlechteren Zeiten an die Spitze der deutsch-jüdischen Gemeinde treten ließen. Hierfür waren nicht nur das Heranreifen in Amt und Würden, nicht nur der Gewinn menschlicher Erfahrungen ausschlaggebend, sondern ebenso ein tiefer innerer Wandel, der sich in der völlig neu bearbeiteten Ausgabe seines Hauptwerks Das Wesen des Judentums niederschlug. Das neue Denken der sich verändernden Umwelt fand ebenso Eingang in seine Lehre, wie die politische und soziale Neuordnung sich auf seine immer häufiger werdenden weltlichen Führungspositionen niederschlug.
Zum Beispiel ist die Großstadtkritik der Neoromantiker jener Jahre auch bei Leo Baeck zu erkennen. Der selbst im kleinstädtisch-traditionellen jüdischen Milieu des Posen’schen Städtchen Lissa aufgewachsene Baeck wanderte über Oppeln und Düsseldorf in die Metropole Berlin. Die deutliche Skepsis über die Aufrechterhaltung von ursprünglicher Religiosität, die in seinem Essay »Gemeinde in der Großstadt« spürbar ist, mag also durchaus biografische Spuren aufweisen: »Aus dem baal habbajis ist in der Großgemeinde der Steuerzahler geworden. Das Persönliche wird durch das Statistische zurückgedrängt und schließlich ersetzt«, schreibt er hier – ganz im Sinne einer neoromantischen Kritik an der Moderne. Und doch ist er Großstadtmensch, erkennt auch die enormen Chancen einer Großgemeinde in Berlin mit 170.000 Mitgliedern.
Leo Baeck wird man nur gerecht werden können, wenn man ihn als Figur seines Zeitalters betrachtet. Denn so wenig wie er blinder Mitläufer von Modeerscheinungen der Zeit war, so wenig war er zum Rebell gegen vorherrschende Denkrichtungen geboren. Als Mann des Ausgleichs versuchte er, dem deutsch-jüdischen Liberalismus, einem Kind des 19. Jahrhundert, unter Integration der neuen Zeitströmungen, einen Platz in der Theologie der zwanziger Jahre zu sichern, schrieb sein Hauptwerk dementsprechend um und vermittelte zwischen den politischen und religiösen Parteien im Judentum der Weimarer Zeit.
Bei inneren Konflikten versuchte er sich als Vermittler zwischen den Fronten. So forderte er (vergeblich) am 2. November 1930, also sechs Wochen nach der mit einem triumphalen Ergebnis für die Nationalsozialisten endenden Reichstagswahl, die Parteien im Berliner Gemeindewahlkampf auf, innerjüdische Streitigkeiten zugunsten einer Kompromissliste aufzugeben, »und so in letzter Stunde es zu verhin- dern, dass in ernster Zeit unsere Gemeinde einer harten und schweren, vielleicht zu schweren Belastung ausgesetzt wird«.
Bereits vor 1933 wuchs Baeck in die Position des Sprechers der deutschen Judenheit hinein, die er danach als Vorsitzender der »Reichsvertretung der deutschen Juden« und ihrer Nachfolgeorgani- sation bis zum Untergang des deutschen Judentums innehaben sollte. 1922 wurde er zum Vorsitzenden des alle religiösen Richtungen umfassenden Allgemeinen Deutschen Rabbinerverbands gewählt. Zwei Jahre später folgte seine Wahl zum Großpräsidenten der Bne-Briss-Loge, der wichtigsten karitativen Einrichtung innerhalb des deutschen Judentums. Und er war Vorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Jüdische Organisationen der unterschiedlichsten religiösen wie politischen Orientierungen rühmten sich, Leo Baeck als führenden Repräsentanten erwähnen zu können. So war er Mitglied des Exekutivausschusses des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und gleichzeitig des Präsidiums der Jewish Agency for Palestine und des Keren Hajessod.
Er war zudem eine dominierende Figur innerhalb der liberalen Rabbiner Deutschlands. Doch verfasste Baeck auch eine bemerkenswerte Gedenkrede auf den orthodoxen Frankfurter Rabbiner Nehemias An- ton Nobel. Auch die Anfänge eines ernsthaften christlich-jüdischen Dialogs während der zwanziger Jahre wären ohne Leo Baeck und Martin Buber kaum denkbar gewesen. Baecks Schriften während der Weimarer Republik, etwa Romantische Religion (1922), Judentum in der Kirche (1925) oder Zwischen Wittenberg und Rom (1931) beschäftigten sich häufig mit der Beziehung der beiden Religionen zueinander.
Das Judentum der Weimarer Republik wies andere bedeutende Denker wie Martin Buber und Franz Rosenzweig auf, auch wichtige Rabbiner, Lehrer und Gemeinderepräsentanten. Aber Leo Baeck war der einzige, der alle diese Bereiche miteinander vereinte. Dies muss bei der Beurteilung seines Wirkens während der Weimarer Republik immer im Auge behalten werden. Seine Schriften waren nicht die eines unabhängigen Gelehrten, eines sich im Elfenbeinturms der Hochschule verschanzenden Wissenschaftlers oder eines Kanzelredners, sondern des Repräsentanten des deutschen Judentums, der bei Liberalen und Zionisten, akademischen Kollegen und Gemeindevolk gleichermaßen ak- zeptiert war. Diese Repräsentationsrolle, in die Baeck während der Weimarer Jahre zunehmend hineinwächst, brachte Vor- und Nachteile gleichermaßen mit sich. Sie mag manches vorsichtige Wort in Situationen erklären, in denen andere deutlicher, auch radikaler wurden. Baeck dagegen versuchte auszugleichen zwischen Volks- und Weltreligion, Geist und Blut, Rationalem und Irrationalem.
Baeck wuchs orthodox auf, lebte traditionell und identifizierte sich mit dem liberalen Judentum. Es kann heute nicht darum gehen, welche Seite Baeck für sich vereinnahmen kann. Die Zeiten haben sich geändert. Liberales Judentum definiert sich heute anders als damals, orthodoxes Judentum ebenso. Man mag vermuten, dass Baeck, würde er zu uns sprechen können, heute auf beiden Seiten manches missfallen würde. Am meisten würde er sich wohl über die zunehmende Kluft zwischen orthodoxem, konservativem und liberalem Judentum ärgern. Einen Nachfolger, der entsprechende theologische und politische Brücken bauen kann, hat er noch nicht gefunden.
Der Autor ist Historiker und hat als Professor den Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne.