von Johannes Honsell
und Oliver Das Gupta
Ihre bald 104 Lebensjahre merkt man Alice Herz-Sommer kaum an. Gäste empfängt sie schon auf der Straße, viele Meter vor der Tür ihres Londoner Apartments, damit die auch den Weg finden. In Trippelschritten, den Oberkörper gerade, marschiert die 1,52 Meter kleine Frau in blauer Strickjacke und weißen Nike-Turnschu- hen neben den Besuchern her und breitet die Arme zu einem Halbkreis aus: »So hat uns damals Franz Kafka bei der Hand genommen, meine Schwester links, mich rechts, und ist mit uns spazierengegangen«, erzählt sie fröhlich auf Deutsch, ihrer Muttersprache. In Prag war das, vor mehr als 90 Jahren.
Wenn Alice Herz-Sommer an diesem Sonntag, den 26. November, Geburtstag feiert, werden wieder viele Journalisten anrufen und nach Kafka fragen. Geduldig wird sie dann erzählen von diesem so speziellen wie schüchternen Freund ihrer Familie, von Freibadbesuchen mit dem berühmten Prager Autor, der alles stets ge- nau beobachtete, »mit seinen großen Reh- augen«, wie sie sagt.
Als Alice Herz 1902 geboren wird, gehört ihre Heimatstadt Prag zum Habsburgerreich. Als der Erste Weltkrieg 1918 zu Ende geht, spielt sie bereits seit zehn Jahren Klavier, lernt beim Liszt-Schüler Konrad Ansorge. 1930 ist sie eine international gefeierte Pianistin. Später wird sich von den Nazis nach Theresienstadt verschleppt. Sie überlebt dank ihrer virtuosen Chopinkonzerte. »Die Musik ist ein Zauber. Das weiß ein Mensch nicht, der sie nicht in sich hat«, sagt Herz-Sommer und zieht das »u« in »Zauber« lang, als sei der Satz ein Hexenschwur gegen alles Böse in der Welt.
Dem Zauber erliegt Alice schon mit drei Jahren, als sie das erste Mal am Klavier sitzt. Mit fünf Jahren beginnt sie, von ihrer ältesten Schwester Irma Klavierspielen zu lernen. Die Eltern sind Industrielle, sie gehören zum gebildeten deutschsprachigen jüdischen Bürgertum Prags. Die Wiener und Prager Kulturszene ist häufig bei Familie Herz zu Gast: Gustav Mahler, Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka. Vor allem Kafka kommt oft vorbei. Er nimmt die 12jährige Alice und ihre Zwillingsschwester Mizzi zum Schwimmen mit, geht mit ihnen spazieren, erfindet Märchen für sie: »Mit uns wurde auch er zum Kind. Er hat die Welt entdeckt wie ein Kind.« So wie Alice Herz-Sommer über den 1924 an Tuberkulose gestorbenen Schriftsteller spricht, ist er für sie der gute Onkel aus versunkenen Kindertagen geblieben.
1931 heiratet die erfolgreiche junge Pianistin Leopold Sommer, 1937 kommt ihr Sohn Raphael zur Welt. Zwei Jahre später marschieren die Deutschen ein. Mit ihnen beginnt eine Zeit, die für Alice »schlimmer ist als später im Lager«. Die Nazis entziehen den Herz-Sommers, wie allen Juden, nach und nach alle Rechte: zu leben, wie sie wollen, zu leben, wo sie wollen und schließlich überhaupt zu leben. Im Juli 1942 holen sie Alices 72jährige Mutter ab, eine alte, kranke Frau: »Ich kann nicht beschreiben, was sie empfunden haben muß, allein mußte sie weg von ihren fünf Kindern.« Wer kann jetzt noch helfen? Sie gibt selbst die Antwort: »Nicht der Mann, nicht das Kind. Nur Du selbst. Und im selben Moment: die 24 Etüden von Chopin.« Fortan übt sie daheim, stundenlang. Nur Chopins so anspruchsvolle Etüden, 24 »herrliche Kompositionen«, die sie immer noch so liebt, daß sie das »r« in »herrlich« noch ein wenig länger rollt als sonst. Sie lernt die Stücke alle auswendig, etwas, was zu dieser Zeit nicht einmal Artur Rubinstein konnte, wie Alice stolz vermerkt.
1943 werden die Herz-Sommers mit ihrem Sohn nach Theresienstadt deportiert. Auch Beethoven, Brahms, Bach und natürlich Chopin gehen mit ins Lager, Note für Note abgespeichert in Alices Kopf.
Theresienstadt ist ein Vorzeigelager der Nazis, um die internationale Öffentlichkeit über das tatsächliche Schicksal der Juden zu täuschen. »Theresienstadt, so wie es ist, muß jedem gefallen«, erklärt Adolf Eichmann, als er das Lager inspiziert, das gerade zu Propagandazwecken verschönert wird. Zur Mimikry gehört auch ein aufwendiges Kulturprogramm. Europaweit bekannte jüdische Musiker zählen zu den Gefangenen, geben Abend für Abend Konzerte. Für Alice Herz-Sommer ist das die Überlebenschance. Mehr als hundert Konzerte gibt sie, die meisten spielt sie auswendig. Ihr Publikum sind alte, verzweifelte, kranke und fast verhungerte Men- schen. »Die haben gelebt von der Musik, die Musik ersetzte das Essen. Die wären gestorben, wenn sie nicht gekommen wären. Und wir auch.« Wenn den ausgemergelten Zuhörern etwas besonders gefällt, schreiben sie kleine Zettelchen: »So hat man manchmal zwanzigmal dasselbe gespielt.« Ihr gefeiertstes Programm sind die Chopin-Etüden, die sie insgesamt zehnmal aufführt, bis zur Befreiung von Theresienstadt im Mai 1945.
Auch Nazis sitzen im Publikum. SS-Bonzen und einfache Soldaten. Sie kommen nach den Vorführungen zu der Pianistin und loben ihr Spiel: »Sie wollten mir wohl zeigen, daß sie auch musikalisch sind, nicht nur Mörder.« Sie sagt das nicht zynisch, eher halb verwundert, halb verzeihend. Sie haßt diejenigen nicht, die ihre Freunde ermordet haben, ihre Mutter und schließlich auch ihren Mann: »Haß erzeugt bloß Haß«, sagt sie.
1947 emigriert Alice Herz-Sommer nach Israel, wo sie 37 Jahre lebt. Ihr Sohn Raphael tritt in ihre Fußstapfen, wird wie sie Musiker, ein berühmter Cellist. Er geht nach London, sie folgt ihm. Als sie neunzig ist, beschließt sie, endlich seßhaft zu werden. Seither lebt sie in ihrem kleinen Londoner Apartment, geht dreimal am Tag spazieren, spielt täglich Klavier.
Was ist das Geheimnis ihrer Langlebigkeit? »Die Gene«, sagt Herz-Sommer zuerst, korrigiert sich dann. »Der Optimismus. Meine Zwillingsschwester Mizzi war absolut das Gegenteil von mir, sehr ängstlich und so pessimistisch, daß ich dankbar war, als sie mit 70 gestorben ist. Sie konnte nicht genießen.«
Alice Herz-Sommer kann das, auch mit demnächst 104 Jahren. Sie setzt sich an ihr altes Klavier, spielt Schubert mit acht Fingern – die Zeigefinger wollen nicht mehr so recht. Von einem Gemälde neben dem Klavier schaut ihr Sohn Raphael ihr zu. Er ist 2001 gestorben, im Alter von 64 Jahren. Die Pedale ächzen, die letzten Takte verklingen. »Wenn eine Mutter das überlebt, brauche ich von meiner inneren Stärke nicht mehr viel zu erzählen«, sagt Alice Herz-Sommer und fügt hinzu. »Ich habe ein wunderbares Leben.«