Gibt es das noch: einen Schriftsteller, der seine Ideen nicht im Garten des grenzenlos Möglichen pflückt – einen, der schreibt, um zu leben, zu überleben; der anders nicht sein kann als der Autor seines Schicksals, und sei es seiner Schicksallosigkeit? So etwas ist schwer vorstellbar geworden, in solchen Begriffen denken wir nicht mehr, der Abstand zwischen unserer Gegenwart und unseren Tragödien wird größer und größer. Und doch gibt es diesen Autor.
existenziell Imre Kertész schreibt Romane, auch Essays, und mitunter rütteln schon deren Titel den Leser wach, nach einer begriffsstutzigen Schrecksekunde. »Der Holocaust als Kultur« nennt er einen seiner Essays im wohltemperierten Festschriftjargon, darin stehen Sätze wie dieser: »Der Holocaust hat seine Heiligen ebenso wie jede andere Subkultur.« Nach einem kurzen Innehalten, ein Semikolon lang, wird aber klar, dass hier kein postmoderner Pointenjäger plaudert, sondern einer, der das vollkommen ernst meint: »Und wenn die Erinnerung an das Geschehene erhalten bleiben soll, dann wird das nicht durch offizielle Reden, sondern durch diejenigen geschehen, die Zeugnis geben.« Denn Imre Kertész war in Auschwitz, er selbst als vierzehn-, fünfzehnjähriger Junge.
Ihn darum einen Zeugen zu nennen, ei-nen, der Bericht gibt und geht, wäre aber falsch. »Diese Geschichte« nennt er Auschwitz manchmal wie beiläufig, um das Ungeheure, um die Begriffe zu kühlen. »Mich interessiert«, hat er 1995 in seiner »Rede über das Jahrhundert« gesagt, »das sogenannte historisch Spezifische dieser gewissen Geschichte höchstens am Rande. Für mich ist das einzig wirklich Spezifische dieser Geschichte, daß sie meine Geschichte ist, dass sie mir passiert ist.« Nicht Zeuge, er ist ein Bezeugender. Einer, der sich fragt. Was heißt das, Auschwitz, für die Welt danach, und was bedeutet es, dass dieser Junge aus Budapest, der er war, überlebte?
Darum geht es in dem Essay mit dem seltsamen Titel vom Holocaust als Kultur, darum geht es in seiner Sprache, in seinem Werk: Um die Frage, ob Auschwitz das Ende von allem ist, das große Dementi der Schöpfung – »Gott erschuf die Welt, der Mensch erschuf Auschwitz«, sagt er in einer anderen Rede – oder ob es, so wahnsinnig das auf den ersten Blick scheint, ein Moment des Erkennens ist, ein Weltdatum. Auschwitz wurde, in Kertész’ Wort, »zum universalen Gleichnis, das das Zeichen der Unvergänglichkeit trägt; das in seinem bloßen Namen sowohl die ganze Welt der nazistischen Konzentrationslager als auch die allgemeine Erschütterung des Geistes darüber fasst und dessen ins Mythische erhobener Schauplatz erhalten werden muss, damit die Pilger ihn aufsuchen können, so wie sie beispielsweise den Hügel von Golgatha aufsuchen.«
urwerte So kann nur ein Mensch des Wortes sprechen. Man beginnt zu begreifen, wie existenziell für Kertész das Schreiben das Rettende gewesen sein muss, auch im anderen totalitären Reich, in dem er den größten Teil seines Erwachsenenlebens zubrachte. »Denn obwohl ich im Nihil aufgewachsen bin ... und gelernt hatte, mich der Welt des Nihil zu fügen, mich in ihr zu bewegen und zurechtzufinden ... : wäre mein naiver Glaube an ursprüngliche Werte – ja, Urwerte – nicht dennoch intakt geblieben, dann hätte ich kein Werk, dann hätte ich nie etwas zustande bringen können.« Und Kertesz nennt auch die Konsequenz, die er wählte, indem er unter totalitären Verhältnissen Schriftsteller wurde: »dass ich damit das freiwillige geistige Exil wählte«.
Ausgerechnet am düster-hellen 9. November, dem heimlichen deutschen Nationalfeiertag, wird Imre Kertesz 80 Jahre alt.