von René Martens
Ein rastloses Multitalent wie Leo Schidrowitz (1894 bis 1956) sucht man heute vergebens: Er war Verleger, Herausgeber einer kunsthistorischen Zeitschrift, Theaterkritiker, Sexualforscher, kurzzeitig Macher der Vereinszeitung von Rapid Wien, Vorstandsmitglied ebendort und ab Ende der 40er-Jahre Pressechef des Österreichischen Fußballbundes (ÖFB). Man darf, ohne in den Verdacht zu geraten, Kulturpessimist zu sein, wohl sagen, dass dem Verlagswesen und dem Sportjournalismus einer wie Schidrowitz gut tun würde.
Der Tausendsassa wird in der sporthistorischen Fachzeitschrift SportZeiten aus dem Göttinger Werkstatt-Verlag porträ- tiert, die sich in der aktuellen Ausgabe der Geschichte des Sports der Juden in Deutschland und Österreich widmet. Den Autoren Matthias Marschik und Georg Spitaler gebührt das Verdienst, diese Persönlichkeit der Vergessenheit entrissen zu haben. Schidrowitz fand nicht nur einen Weg, seine Interessenfelder miteinander zu vereinbaren, er beackerte auch noch jedes einzelne davon ausgiebig. Als Eigentümer, Programmleiter und in anderen leitenden Funktionen wirkte er beispielsweise zwischen 1920 und 1935 für sechs Wiener Verlage, wobei immer drei Tätigkeiten parallel liefen. Eine bemerkenswerte Figur ist Schidrowitz, der sich 1938 zur Emigration nach Brasilien genötigt sah, auch, weil sein Handeln nicht frei von Widersprüchen war. Als Autor der Rapid-Zeitung verfasste der Jude Schidrowitz einmal einen Beitrag über den als jüdisch geltenden Klub Amateure (heute Austria Wien), der sich antisemitisch interpretieren lässt: Die Anhängerschaft bestehe aus »reichgewordenen jüdischen Kaufleuten«, und »mit einer Deutlichkeit, die anderwärts vergeblich gesucht werden wird, stellen die Amateure ihren ganzen Sportbetrieb nur auf die Fülle ihrer Brieftasche ein«.
Nachdem Schidrowitz aus dem Exil zurückgekehrt war, fokussierte er sich im Standardwerk Geschichte des Fußballsports in Österreich bei der Aufarbeitung des Themas Fußball und Nationalsozialismus auf sportliche Aspekte und deutete einen politischen Kontext allenfalls an. So betrieb er als NS-Opfer eine Vergangenheitspolitik, die sich kaum von der unterschied, die NS-Mitläufer und ihnen nahestehende Fußballfunktionäre in Deutschland und Österreich nach 1945 forcierten.
Ein weiterer Beitrag im Heft ist Ernst Cantor gewidmet, dem von 1911 bis 1933 amtierenden jüdischen Vorsitzenden des Mainzer Turnvereins, der 1942 in einem polnischen Vernichtungslager vergast wurde. Der Funktionär vertrat eine vaterländische Turnideologie, die auf seiner Verehrung Friedrich Ludwig Jahns, des sogenannten Turnvaters, basierte, und übersah in »seinem starken Selbstbewusstsein als tüchtiger und leistungsfähiger Deutscher« den Antisemitismus insbesondere unter den Turnern. 1933 musste er mitansehen, wie die Deutsche Turnerschaft, die er 1925 noch gepriesen hatte (»Du deutsche Turnerschaft bist einig und gefestigt in Dir in Liebe zu Volkstum und Vaterland«), im vorauseilenden Gehorsam antisemitische Beschlüsse umsetzte, die radikaler als die Nürnberger Rassengesetze waren.
Den Beiträgen merkt man die aufwendige und mühevolle Recherchearbeit an. Die aktuelle SportZeiten-Ausgabe ergänzt somit das zweite Heft der Reihe, das 2001 unter dem Titel »Jüdischer Sport« erschien und unter anderem einen Beitrag zur Geschichte der Makkabiade enthält.
SportZeiten: Geschichte des Sports der Juden in Deutschland und Österreich, 9,70 €, www.sportzeiten.eu