Der Name Jerusalems soll »Stadt des Friedens« bedeuten, doch seit Wochen scheint die Stadt eher zum Ausgangspunkt für regionale Konflikte zu werden. Am vergangenen Sonntag war Jerusalem wieder eine Stadt der Gegensätze: In den engen Gassen des muslimischen Viertels hagelte es Steine von Dächern, Eliteeinheiten der israelischen Polizei stürmten zwei Mal den Tempelberg und räumten muslimische Beten-
de. Zur selben Zeit schlenderten nur wenige hundert Meter entfernt ahnungslose Touristen unbekümmert durch den Basar. In den Straßenschlachten zwischen israelischen Polizisten und palästinensischen Jugendlichen wurden mehr als 20 Demonstranten und neun Beamte verletzt, 21 Randalierer wurden verhaftet. Später herrschte zwar eine gespannte Ruhe. Allen Beteiligten war jedoch klar, dass es sich nur um eine Verschnaufpause handeln kann. Extremisten auf beiden Seiten haben es darauf abgesehen, die Heiligkeit Jerusalems für ihre eigenen politischen Zwecke zu missbrauchen und die Stimmung weiter anzuheizen.
Geschichte Der Streit konzentriert sich dabei auf die 144.000 Quadratmeter des Geländes, das die Araber »Haram asch-Scharif«, das verehrte Heiligtum, und die Juden »Tempelberg« nennen. Er gilt den Juden als der heiligste Ort auf Erden. Vor 2.000 Jahren stand hier der jüdische Tempel. Der Kern dieses Tempels, das »Allerheiligste«, befand sich, so will es manche Überlieferung, über dem »Schöpfungsstein«. Hier sollen sich die wichtigsten Episoden der Bibelgeschichte ereignet haben: Die Schöpfung des Universums begann mit diesem Felsen, später wurde Adam hier geschaffen und wieder begraben, Kain erschlug an dieser Stelle Abel. Schließlich soll Abraham hier fast seinen einzigen Sohn Isaak, einer der drei Stammesväter des jüdischen Volkes, geopfert haben, aber bereits in dieser Frage besteht Streit mit den Muslimen. Die behaupten nämlich, Abraham habe hier fast seinen Lieblingssohn Ischmael geopfert, der als Stammesvater der Araber gilt. Den Muslimen gilt heute genau derselbe Felsen als heilig, weil der Prophet Mohammed von hier in den Himmel aufgestiegen sein soll. Seit dem Jahr 690 befindet sich über dem Schöpfungsstein der Felsendom, das älteste muslimische Sakralbauwerk der Welt. Wenige Meter südlich erhebt sich die al-Aksa-Mo-
schee, der drittheiligste Ort des Islams.
Symbol Bei so viel Symbolkraft ist es kein Wunder, dass sich Extremisten um die Herrschaft über den Tempelberg streiten. Diese Frage hat sich als das schwierigste Problem in den 16-jährigen Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern erwiesen. Selbst augenscheinlich pragmatische palästinensische Führer lehnen hier jeden Kompromiss kategorisch ab. Seit Jahren warnen Islamisten vor israelischen Ge-
heimplänen, die die Vernichtung al-Aksas zum Ziel haben sollen. »Das Schicksal Jerusalems wird nur durch Kampf, nicht durch Verhandlungen bestimmt werden«, sagte Hamasführer Khaled Maschal diese Woche und forderte Muslime in aller Welt zum Kampf für Jerusalem auf. Konsequent be-
treiben Muslime auf dem Berg eine Islamisierungspolitik, die jedes Überbleibsel der historischen jüdischen Präsenz auf dem Haram verneinen oder vernichten soll. »Niemand hat ein Anrecht auf die al-Aksa außer den Muslimen. Das Gelände ist ausschließlich arabisch und palästinensisch«, sagte der Führer der islamischen Bewegung Israels Raed Salah.
Fanatiker Seit mehreren Wochen schütten nun auch israelische Fanatiker Öl ins unheilige Feuer. Vor wenigen Wochen legten Anhänger eines extremistischen Tempelkults in einer Siedlung 16 Kilometer östlich von Jerusalem den Grundstein für ein Modell des Tempels. Sie wollen hier Priester für die Ausübung der heiligen Ri-
ten ausbilden, falls der Tempel wieder aufgebaut werden sollte. Dies ginge nur nach einer Zerstörung der Moscheen. Danach richteten israelische Ultrarechte eine Konferenz aus, die auf dem Tempelberg mehr Rechte für Juden forderte. Juden ist es verboten, auf dem Tempelberg zu beten. Israel besitzt zwar die Oberhoheit über den Tempelberg. Die islamische Glaubensstiftung, der Waqf, verwaltet den Haram aber im Alltag. Der Waqf und die israelischen Be-
hörden haben, aus Angst vor Unruhen, Juden verboten, auf dem Tempelberg öf-
fentlich zu beten.
Die »Tempeltreuen« wollen jetzt den Staat mit Druck gefügig machen. Sprecher forderten die Israelis auf, zu Tausenden auf den Tempelberg zu drängen um dort zu beten. »Je mehr wir uns von den Arabern einschüchtern lassen, desto mehr Gewalt wird es geben«, sagte die Likud-Abgeordnete Zippi Hotobelli und wies jede Kritik, sie heize die Stimmung nur noch weiter auf, zurück.
Politik Auf palästinensischer Seite reagierten Politiker jeder Couleur hart auf die vermeintliche Provokation der Israelis. Dabei verblüffen die Parallelen zwischen jüdischen und muslimischen Extremisten, denen es gelingt, wachsende Kreise der eigenen Bevölkerung mitzureißen. Auf beiden Seiten tragen die Extremisten dieselben langen Bärte und großen Kopfbede-
ckungen, und nutzen fast identische Pa-
rolen. »Die Juden haben kein Recht auf Je-
rusalem, es ist das Symbol für ganz Palästina«, sagte Khaled Maschal in Damaskus. Auf dem Kongress in Jerusalem erklärte der jüdische Knessetabgeordnete Michael Ben-Ari von der Nationalen Union: »Der Tempelberg ist Symbol für das Land Israel. Wenn wir den Tempelberg aufgeben, ge-
ben wir das ganze Land auf.« Auf beiden Seiten forderten Sprecher dazu auf, zu Tausenden zum Tempelberg oder Haram zu strömen um dort zu beten, und den heiligen Berg vor dem Gegner zu schützen.
streit Zwischen den Parteien steht eine höchst nervöse israelische Polizei, die in gleich mehreren arabischen Stadtvierteln gegen Ausschreitungen vorgehen musste und bemüht war, die Extremisten in Schach zu halten. Ein israelischer Sicherheitsbeamter wurde von einer Palästinenserin niedergestochen, ob sie die Tat wegen der Ereignisse in Jerusalem begang, ist noch unklar. Klar ist jedoch, dass der anhaltende Streit und die Unruhen nicht nur die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen, sondern auch Israels diplomatische Beziehungen zur arabischen Welt erheblich beeinträchtigen. Ägypten und Jordanien kritisierten Israels Politik in Jerusalem auf das Schärfste, der UN-Ausschuss für Menschenrechte, der sich eigentlich mit dem Krieg im Gasastreifen befassen wollte, verurteilte in erster Linie Israels Besatzungspolitik in Ostjerusalem. Unter der Oberfläche brodelt die Stadt, weitere Ausbrüche der Gewalt scheinen fast unausweichlich. Der stellvertretende Vorsitzende der islamischen Bewegung in Israel, Kamal Khatib, hatte keine beruhigenden Worte parat: »Von Jerusalem kann ein Feuer ausgehen, das nicht nur die gesamte Region, sondern die ganze Welt in Brand setzt«. Von der Stadt des Friedens ist jenseits der mit Touristen gefüllten Geschäftsstrassen in Jerusalem nichts zu spüren.