Die Erinnerung? »Ein vielschichtiges Phänomen«, seufzt Raffaela Di Castro und schenkt sich eine Tasse Tee ein. Ihr Blick schweift hinaus auf die mächtigen Pinien im ehemaligen olympischen Dorf des Stadtviertels Flaminio und heftet sich dann auf ihr jüngstes Buch, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Dessen Titel lässt die Schwierigkeiten erahnen, auf die sie anspielt: Zeugen des Nicht-Erlebten. Kann man Zeuge eines Ereignisses sein, das man selbst nicht erlebt hat? »Durchaus«, versichert die 38-jährige Römerin, die den Fakten und Trugschlüssen der Erinnerung in ihrem 325 Seiten starken wissenschaftlichen Werk nachspürt. Das Thema gehört für Raffaella Di Castro sozusagen zum täglichen Brot, unterrichtet sie doch an der römischen Universität ein weltweit einmaliges Lehrfach: Filosofia della memoria – Philosophie der Erinnerung.
Wenn sie über Erinnerung spricht, holt die Forscherin weit aus: Sie beginnt bei Plato, streift Immanuel Kant und endet bei Walter Benjamin, über den sie ein Buch schreiben will. Den naiven Glauben, Erinnerung sei einfach ein Bündel persönlicher Reminiszenzen aus früheren Jahren, muss der verwirrte Zuhörer schon bald fallen lassen. Der Untertitel ihres Buches lässt das Thema etwas greifbarer werden: »Erinnerungen, Gedanken und Vorstellungen der Schoa in der dritten Generation«. Dieser gehört die 1970 geborene Autorin selbst an. »Ich bin Tochter verfolgter, aber nicht deportierter jüdischer Eltern. Meine Identifikation mit den Schilderungen meiner Mutter war so stark, als hätte ich all das schon immer gewusst«, beschreibt Di Castro ihre Ausgangslage. »Um eigene, persönliche Erinnerungen zuzulassen, musste ich erst Distanz gewinnen. Gelegenheit dazu bot mir ein Stipendium in Berkeley.«
Als Arbeitsgrundlage für ihr Buch führte die Autorin ausführliche Interviews mit Kindern von Schoa-Verfolgten: »Da wurde mir vollends klar, welch komplexes Phänomen die Erinnerung ist.« Viele der Befragten hätten die Schilderungen ihrer Eltern und Verwandten »so verinnerlicht und emotional gespeichert, als hätten sie Schrecken und Furcht selbst erlebt«. Dieser »Als-ob-Erinnerung« widmet die Autorin ein ganzes Kapitel ihres Werks. »Damit sind eine Menge psychoanalytischer Aspekte verbunden. Dass Erinnerung nicht einfach ein Depot ist, in dem wir vergangene Erlebnisse ablegen, ist auch Neurologen längst klar. Uns Philosophen präsentiert sich das Problem noch etwas komplizierter. Es handelt sich um eine dialektische Wechselwirkung von Vergangenheit und Gegenwart, die unsere Erinnerungen ständig verändert, die sie verschwimmen lässt und oft in Träumen wieder zurückruft. Wer von einem Ereignis häufig erzählt bekommt, ist schließlich davon überzeugt, es selbst erlebt zu haben. Da wir nicht alles behalten können, tendieren wir dazu, unsere Erinnerungen zu filtern«, so Raffaella Di Castro.
Ihren Studenten versucht sie klar zu machen, dass neben dem theoretischen Ansatz vor allem die Selbsterfahrung wichtig sei. »Das war bei der Arbeit für mein Buch extrem lehrreich. Ich habe die Antworten meiner Interviewpartner immer wieder mit meinen eigenen Erinnerungen verglichen, oft haben sie Gegenfragen gestellt, und unsere Rollen waren plötzlich vertauscht. Dieses persönliche Erleben war für mich sehr aufschlussreich, um zu begreifen, wie Erinnerungen geformt werden, was wir behalten und was wir verdrängen, was uns vordringlich und was nebensächlich scheint.« Akribisch untersucht die Autorin die Aussagen ihrer Gesprächspartner, ihre Wortwahl und ihren Erzählhintergrund, befragt sie nach ihren Gefühlen, Ängsten und Visionen. »Die Kraft von Bildern«, versichert Di Castro, »prägt sich tiefer ins Gedächtnis ein als Schilderungen Betroffener«. Ein Besuch der Baracken von Auschwitz etwa habe einen größeren faktischen Erinnerungswert als die Erzählung eines Großvaters.
überlebensschuld Besonderes Augenmerk widmet Di Castro dem Thema der Identifikation. »Meine Freunde behaupten, ich sei fossil, weil ich ›wir’ sage, wenn ich vom KZ spreche«, klagt Debora, eine der Interviewpartnerinnen in Di Castros Buch. »Sie machen mir klar, dass nicht ich dort gelitten habe, sondern meine Großeltern.« Häufig mische sich in die Erinnerungen »eine Art Schuldgefühl, verschont geblieben zu sein«, beschreibt Di Castro die oft widersprüchlichen Gefühle der dritten Generation.
Zu den wichtigsten Themen des Buches zählt die »Erinnerungspflicht«, die eine »zunehmende Rolle« spiele. Die durch den offiziellen Schoa-Gedenktag »verordnete Erinnerung« habe keineswegs nur positive Aspekte: »Diese institutionalisierte, amtliche Erinnerung mit ihren öffentlichen Gedenkfeiern birgt auch das Risiko, eine Art kollektives Gedächtnis für alle zu schaffen«, warnt Di Castro: »Die Schoa läuft Gefahr, zwischen dem immer mehr verblassenden persönlichem Trauma und den offiziellen Gedenkfeiern zu einer »verkrusteten Erinnerung« zu erstarren. »Meine Generation muss einem Trauma Form und Gestalt verleihen, das sie selbst nicht erlebt hat. Sie muss – individuell und kollektiv – einen Weg suchen, die Erinnerung wachzuhalten, ohne von ihr erdrückt zu werden. Dabei kann die filosofia della memoria durchaus hilfreich sein.