von Andreas B. Kilcher
Franz Kafka charakterisierte 1921 die deutsch-jüdische Literatur und damit auch sein eigenes Schreiben als »eine von allen Seiten unmögliche Literatur«. Zunächst die »Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben«; sie entspringe der Not der Assimilation, die deutsch sein will, ohne vom Judentum loszukommen. Dann die »Unmöglichkeit, nicht zu schreiben«; sie sei eine Folge der Erklärungsnot, zwischen zwei kulturellen Kontinenten zu liegen. Schließlich »die Unmöglichkeit zu schreiben«; sie resultiere aus der Lage im Niemandsland zwischen der deutschen und der jüdischen Literatur. Zwischen diesen beiden Vater-Literaturen stehend sieht Kafka seine Genera- tion junger jüdischer Söhne zum Schreiben getrieben – und zugleich daran gehindert.
Das war noch vor der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Diese aber hat die Unmöglichkeitslage der deutsch-jüdischen Literatur nur verschärft. Adornos Diktum, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, war ein Symptom dafür am gefühlten Ende der Geschichte der Juden in Deutschland. Ähnlich sah auch der Verleger Siegmund Katznelson in seiner »abschließenden Sammlung« Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten von 1959 die deutsch-jüdische Literatur an ihr Ende gekommen: »Diese Sammlung wird als ›abschließend‹ bezeichnet, weil nach menschlichem Ermessen die deutschsprachige Dichtung jüdischen Inhalts mit unserer oder vielleicht der nächsten Generation zu Ende geht.«
Dies vor Augen ist es Trotz und Selbstbehauptung, dass seit rund 1980 eine jüngere Generation jüdischer Schriftsteller, die »zweite Generation«, wieder in deutscher Sprache schreibt. Es ist Trotz gegen den Willen der Nazis, und es ist Selbstbehauptung gegen die, die nach 1945 die deutsch-jüdische Geschichte für abgeschlossen hielten. Diese trotzigen und selbstbewussten Stimmen im jüngeren deutschsprachigen Literaturgeschehen sind inzwischen bestens bekannt: Robert und Eva Menasse, Maxim Biller, Katja Behrens, Robert Schindel, Barbara Honigmann, Doron Rabinovici, Rafael Seligmann, Daniel Ganzfried, Gila Lustiger, Esther Dischereit, um nur einige zu nennen. Sie sind getragen vom Trotz, nicht nur gegen den Willen der Nazis, sondern auch gegen die nachfolgende Tabuisierung der Geschichte. Ihr Aussprechen von Unbequemem ist allerdings auch ein selbstkritischer Triumph: Es will nicht Schuld weiterführen, Opferrollen instrumentalisieren, in sinnentleerte Erinnerungsrituale einstimmen, dem Kitsch des Todes verfallen. Es ist eine Gratwanderung.
Mit diesem immer wieder neuen Bruch von Tabus, Schweigen und Erwartungen ist die jüngere deutsch-jüdische Literatur weit entfernt von Versöhnung und Wiedergutmachung, und damit von einer Neuauflage der gescheiterten »deutsch-jüdischen Symbiose«. Es ist vielmehr mit ei- nem angespannten Verhältnis zur deutschen Kultur zu rechnen. Treffend ist der Begriff der »negativen Symbiose«, den der Historiker Dan Diner 1987 prägte. Von einem Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland kann demnach paradoxerweise erst nach dem Holocaust die Rede sein, allerdings nun in einer negativen Form: als das Nicht-mehr-voneinander-Loskommen in den Nachwehen einer Katastrophe.
Es kristallisieren sich dabei zwei Muster heraus. Auf der einen Seite zeichnet sich eine neue Emigrationsliteratur ab: Jüdische Schriftsteller verlassen Deutschland, um an einem weniger konfliktreichen Ort zu schreiben. Dort wird überraschend eine weniger problematische Literatur möglich, die sogar an das Ideal eines Deutschlands der Kultur anschließen kann. Barbara Honigmann etwa hat ihren Sprung aus der DDR nach Straßburg dergestalt als Ausweg aus der »negativen Symbiose« in ein selbstverständliches jüdisches Leben verstanden: »Hier, in Frankreich, geht mich alles viel weniger an, ich bin nur ein Zuschauer, ein Gast, eine Fremde. Das hat mich von der unerträglichen Nähe zu Deutschland befreit.« Es war überraschend, als auch Maxim Biller Ende vergangenen Jahres mit dem Gedanken spielte, nach Israel auszuwandern.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die bewusst hier bleiben und sich den Dissonanzen jener »negativen Symbiose« und damit der Unmöglichkeit aussetzen, deutsch und anders als deutsch zu schreiben. Ihre Herausforderung bleibt ein Satz, der sich in Robert Menasses Vertreibung aus der Hölle findet: »Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich.« Demnach ist nicht nur die Verdrängung von Geschichte unmöglich, sondern auch die Versöhnung mit ihr.
Bleibt zu fragen, ob die jungen Autoren unter den Zuwanderern aus Osteuropa wie Lena Gorelik innerhalb dieser beiden Muster schreiben – oder ob ein drittes, ganz anderes Muster deutsch-jüdischen Schreibens entstehen wird, das durch einen Blick von außen neue Perspektiven ermöglicht.
Der Autor ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.