Glaube

Trotz aller Unterschiede

von Rabbiner Avichai Apel

Eine Wahrheitsprüfung. Alle Väter und Mütter wissen, dass es einen Unterschied zwischen der Verhaltensweise von Kindern gegenüber ihren Eltern und gegenüber anderen geben kann. Viele Eltern versuchen, ihre Kinder ein Leben lang zu begleiten. Die Beziehung soll harmonisch sein, man unterstützt sich gegenseitig. Unsere Absicht bei der Kindererziehung ist, dass die Kinder eines Tages allein und ohne elterliche Hilfe zurechtkommen. Alle Väter und Mütter wünschen ihren Kindern Erfolg im Leben und hoffen, dass sie dem Weg der Eltern folgen, dass unter den Geschwistern der Kontakt nicht abreißt und sie einander helfen.
Im Wochenabschnitt Wajechi sind große Geheimnisse verborgen. Jakob versammelt seine Söhne und erklärt jedem einzelnen seine Bestimmung in der Welt. Un- sere Weisen beschreiben die Situation als eine von hoher geistiger Erhebung, doch sie wird plötzlich gestoppt. »Und Jakow rief seine Söhne und sprach: Versammelt euch, und ich will euch verkünden, was euch begegnen wird in späten Zeiten.« Jakow möchte seinen zwölf Söhnen das Ende der Welt verraten und vor allem die Zukunft des Volkes Israel, doch etwas verhindert dies. Die Göttlichkeit ist ihm entlaufen, und er beginnt, andere Dinge zu erzählen.« (Raschi, 1. Buch Moses 49,1).
Jakow fürchtet, dass hier vielleicht ein großer Fehler geschah. Seine zwölf Söhne hatten ihren Vater bereits durch ihre Taten überrascht. Jakow weiß, dass jeder seiner Söhne besondere Eigenschaften hatte, die sie voneinander unterschieden. Zum Beispiel ist ihm nicht verborgen geblieben, dass Schimon und Levi ohne sein Wissen entschieden hatten, die Bewohner von Schchem wegen des Missbrauchs ihrer Schwester Dina umzubringen. Das entsprach nicht Jakows moralischen Vorstellungen. Und obwohl ihm seine Söhne erzählt hatten, Josef sei von wilden Tieren gefressen worden, weiß er, dass er sich jetzt in Josefs Haus befand, der zu diesem Zeitpunkt Ägyptens Herrscher war. Und auch die Taten Reubens und Jehudas sind Jakow bekannt.
Während Jakow versucht, auf ein höheres Niveau von Prophezeiung zu gelangen, um seinen Söhnen das Ende aller Tage zu verraten, merkt er, dass ihn etwas davon abhält, diese Botschaft weiterzugeben. Eine große Angst hat ihn ergriffen. »Er sagte: Vielleicht gibt es etwas Unreines in meinem Bett, ähnlich wie Awraham den Jischmael gebar und Jitzchak den Esaw gebar.«
Jakows Kindheit war anders als die seiner Söhne. Es gab einen großen Unterschied zwischen seinem Verhalten und dem seines Bruders Esaw. Ähnlich war die Situation seines Vaters Jitzchak, der zusammen mit Jischmael aufwuchs und wegen des Unterschieds zu seinem Halbbruder einen großen moralischen Konflikt austrug. Es ging sogar so weit, dass Sara ihren Mann Awraham aufforderte, Jischmael von zu Hause fortzuschicken, damit er Jitzchak durch sein schlechtes Verhalten nicht beeinflussen würde.
Jakow wusste, dass er seine Söhne anders erzog. Und er glaubte, sie seien tatsächlich unterschiedlich. Trotzdem gab es Einigkeit unter ihnen im Glauben an G’tt. Eines Tages hielt Jakow den Zeitpunkt für gekommen, den Erfolg seiner Erziehung zu prüfen.
Die Antwort der Söhne Jakows ließ nicht lange auf sich warten: »Und sagten seine Söhne: ›Höre Israel, der Ewige ist unser G’tt, der Ewige ist einzig. Genauso wie du nur einen G’tt im Herzen hast, so haben wir nur einen G’tt im Herzen.«
Im Talmud (Psachim 56) steht, dass sich Jakows Söhne in vollkommener Einigkeit mit dem aufgeregten Aufruf »Schma Jisrael« an ihn wenden. Es ist eine Gruppenerklärung der Söhne gegenüber ihrem Vater. Er solle keine Angst vor Uneinigkeit in dem Glauben an den Schöpfer haben. Die Erziehung, die er seinen Söhnen gegeben hat, an einen G’tt zu glauben, war tief in ihrem Herzen verankert.
Trotz des Umfelds, in dem die Söhne aufgewachsen waren – die ersten Lebensjahre im Hause Lawans, das voller Götzen war, und danach in Ägypten, auch das voller Götzen – waren die zwölf Stämme Israels einig in dem Glauben an G’tt. Er ist unser einziger G’tt, und wir denken nicht daran, dass es einen anderen G’tt geben könnte. Der Ewige ist einzig, Seine Einheit und Besonderheit sind uns bekannt – dieser Glaube ist in unseren Herzen verankert.
Es stellt sich heraus, dass dasselbe Kriat Schma, das wir täglich lesen, von den Söhnen Jakows stammt. Er antwortete seinen Söhnen und sagte: »Gelobt sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches immer und ewig.« Dieser Glaube an die Einheit des Schöpfers ist ein ewiger Glaube an seinen Namen, der immer und ewig existiert.
Der Dialog zwischen Jakow und seinen Söhnen findet jeden Tag mit dem ganzen Volk Israel statt. Während des Gebets sagen wir Dinge, die den Sinn unseres Lebens und die Art unseres Glaubens zeigen sollen. Das Ziel des Gebets ist die Bitte des Menschen um ein besseres Leben. Beim Gebet stärken wir unsere Beziehung mit G’tt. Wir beten zum Beispiel mehrmals »Gelobt seiest Du Ewiger …«, um unsere Stellung in der Welt gegenüber G’tt zu verstehen.
So auch während des Schma-Gebets: Das gesamte Volk Israel vereint sich und stellt eine Verbindung mit Jakow her, der Israel genannt wurde. Es geht darum, Jakows Verbindung zu G’tt auszudrücken. Danach setzen wir die Aussage im Kriat Schma fort. Eine tausend Jahre alte Erklärung, die aussagt, dass unser Glaube sich nicht geändert hat. Schon immer glauben wir an G’tt und an seine Einzigartigkeit. Jakow und seine Söhne schenkten uns den Schlüsselsatz des Volkes Israel.
Viele Generationen jüdischer Eltern wurden vom G’tt nicht enttäuscht und hatten Vertrauen in die Zukunft ihrer Kinder. Deshalb vererbten sie die Zugehörigkeit zum Volk Israel an ihre Kinder. Ein Kind, das mit dem Schma Israel aufgewachsen ist, kann sofort verstehen, dass es nicht von der Gemeinschaft abgeschnitten aufwächst, sondern Teil einer großen Familie ist, der Familie Jakows – Israels. Und nachdem wir diese Erkenntnis verinnerlicht haben, kann Jakow und können auch unsere Eltern antworten und das Geheimnis unserer Existenz lüften: »… und immer und ewig.«
Es ist bekannt, dass der Oberrabbiner von Eretz Israel, Rabbiner Yitzhak Halevi Herzog, nach der Schoa in einige Klöster ging, um jüdische Kinder zu holen, die sich dort versteckt hielten. Da einige Jahre vergangen waren, seitdem die Kinder von ihren Eltern getrennt wurden, konnte er nicht erkennen, wer jüdisch war und wer nicht. Deshalb wandte sich der Rabbiner an die Kinder und sagte: »Schma Jisrael Haschem Elokeinu Haschem Echad«. Dann standen die jüdischen Kinder, die das morgens und abends zu Hause gehört hatten, auf und gaben ihre wahre Identität preis. So wurden sie vor der Assimilation gerettet.
Rabbi Brechja und Rabbi Chelbo sagen im Namen von Rabbi Schmuel: »Denn das Volk Israel betet morgens und abends und sagt ›Schma Jisrael‹ – Du bist unser Vater, aus dem Grab der Patriarchen; das Gleiche, was Du uns befohlen hattest, gilt immer noch für uns: G’tt ist unser G’tt, G’tt ist eins (Bereshit Raba 98,3).

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund.

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