Arm und Reich

Trend, Tristesse und Tragik

von Pierre Heumann

Plötzlich liegen die Nerven von Sima Revah blank. Die verzweifelte Witwe und alleinerziehende Mutter aus Aschkelon fährt am 6. April ihren Wagen vor die Knesset und droht, sie werde sich zusammen mit ihrer Tochter in die Luft sprengen, falls ihre Forderung nicht erfüllt wird. Im Auto befände sich ein voller Benzinkanister, behauptet sie. Indem sie sich ein Messer an die Gurgel hält, unterstreicht sie ihre Entschlossenheit, bis zum Äußersten zu gehen, sollte ihre Bitte weiterhin abgelehnt werden.
Mit ihrer Verzweiflungsaktion habe sie dagegen protestiert, dass der Staat sie vernachlässige, sagt Sima später. Sie hatte bei den Bürokraten auf Granit gebissen, obwohl ihre Forderung bescheiden ist: Ihre beiden zerebral-gelähmten Kinder sollen vom Staat einen angemessenen Rollstuhl erhalten. Aber die Sozialarbeiter hätten ihr dies mit allen möglichen Ausreden und Begründungen verweigert. Jetzt aber, nach ihrer Protestaktion, würden die Beamten versprechen, sich um den Fall zu kümmern und Abhilfe zu schaffen. Zumal sich die Sache mit dem Benzinkanister als Bluff erwiesen hat.
Sima Revah und ihre Verzweiflung sorgen einige Stunden lang für Schlagzeilen. Schlagzeilen, die der neuen Armut in Israel ein Gesicht geben. Doch Stories über wirtschaftliche Not und soziales Elend bewegen die Nation kaum noch. Wer die Aufmerksamkeit der Reporter auf sich ziehen will, muss sich schon etwas Besonderes einfallen lassen. Zum Beispiel Holocaustüberlebende, deren Rente kaum aus- reicht, um über die Runden zu kommen.
Der Zorn mobilisierte im vergangenen Jahr nicht nur die Überlebenden, sondern auch deren Kinder und Enkel. Rund 3.000 Demonstranten protestierten vor der Knesset und gingen zu Fuß zu dem knapp einen Kilometer entfernten Sitz des Premiers. Um aufzufallen, trugen sie gestreifte Pyjamas und den gelben Judenstern an der Brust – ein medienwirksamer Protest gegen die Vernachlässigung durch die Regierung. Die Kameras rollten an, Mikrofone wurden geöffnet, und es fielen harte Worte: »Der Marsch von Auschwitz nach Birkenau fiel mir leichter als der Weg vom Parlament zu Olmert«, sagte ein Überlebender. Ambulanzen säumten den Weg, um den Gebrechlichen nötigenfalls beizustehen. Tagelang führten die israelischen Medien eine Kampagne für eine Erhöhung der ungenügenden Renten. Auf der Titelseite der Tageszeitung Maariv erschien zum Beispiel die 82-jährige Zippora Luschowitz. Ihr war in Auschwitz eine Nummer auf den Unterarm tätowiert worden. Jetzt sei sie schwach und krank. Mit ihrer Rente könne sie sich nicht einmal eine Brille leisten. »Zippora muss zwischen Brot und Medikamenten entscheiden«, titelte die Zeitung. Worauf sich eine Kommission um das Los der Holocaustüberlebenden kümmerte.
Von den 250.000 Holocaustüberlebenden müssen rund 60.000 im Monat mit 300 Euro oder weniger auskommen. Die Nationalversicherung hält sie mit mickrigen Renten am Leben. Ruth Tatarko lässt ihrem Ärger über die israelische Regierung freien Lauf: »Wir sind die letzten Überlebenden des Holocaust«, sagt die Frau, die in Auschwitz interniert war und mit dem Leben davonkam. »Aber die Regierung betrachtet uns offenbar als Last und wartet auf die biologische Lösung.«
Das Gedenken an den Holocaust ist an Israels Schulen zwar fester Bestandteil des Lehrplans. Jedes Jahr fahren 20.000 Jugendliche nach Polen, um dort in den ehemaligen Vernichtungslagern der sechs Millionen ermordeten Juden zu gedenken. »Wir sollten uns zunächst um die Lebenden und erst dann um die Toten kümmern«, meint hingegen die israelische Historikerin Nili Keren. Die Zeit drängt: Jeden Tag sterben rund 35 Holocaustüberlebende. »Die Zeit arbeitet gegen uns«, sagt denn auch die 71-jährige Kathleen Schwartz, die dem Nazi-terror entkam.
Zwei Mal im Jahr schlägt das National Insurance Institute (NII) Alarm, indem es über den neuesten Stand der Armut im Lande informiert. Jede fünfte Familie, heißt es dann regelmäßig, lebe unter der von Statistikern definierten Armutsgrenze. Nicht nur bei Holocaustüberlebenden – auch bei Kindern, Rentnern, Arabern, Orthodoxen und in Jerusalem sei die Lage prekär, schreibt das NII mit wiederkehrender Routine in seinen Berichten. In der Regel kümmern sich die Medien aber höchstens 24 Stunden lang um die Elendsstatistik. Dann verschwindet die Frage, weshalb so viele Familien mit weniger als 300 Euro im Monat, der offiziellen Armutsgrenze, auskommen müssen, wieder aus den Schlagzeilen.
Soziale Themen werden erst »sexy«, wenn sich das Land den Wahlen nähert und Politiker mit allerhand Versprechen auf Stimmenfang gehen. Wie leer diese allerdings sind, zeigt das Beispiel von Amir Peretz. Der ehemalige Gewerkschaftsführer griff vor zwei Jahren, als er noch Chef der Arbeitspartei war, Themen wie Mindestlohn, Renten und die Lage der nur vorübergehend Beschäftigten auf. Kaum aber steckte er in den Koalitionsverhandlungen mit Premier Ehud Olmert, waren die Armen vergessen. Der Arbeiterführer übernahm das Verteidigungsministerium – und sprach weder von seiner sozialen Agenda noch seinem Wahlversprechen, dass es »keine hungrigen Kinder mehr geben wird«.
Die neue Armut breitet sich zwar auch in anderen Industrieländern aus. In Israel aber, das in den Gründerjahren stolz auf seine egalitäre Gesellschaft war, ist die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer als anderswo. Nur in den USA ist die Ungleichheit noch höher. Damit einher geht auch eine Abnahme der gesellschaftlichen Solidarität mit den Schwachen, die von den Gründervätern als selbstverständlich erachtet worden war. Einst waren 80 Prozent der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert – jetzt sind es bloß noch 30 Prozent.
Das Land, in dem Sozialismus Staatsideologie war, hat seit den 80er-Jahren einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Firmen wie ZIM Integrated Shipping Services, die Fluglinie EL AL und der Kommunikationsgigant Bezeq wurden privatisiert. Der ehemalige Finanzminister Benjamin Netanjahu trieb die neoliberale Wirtschaftspolitik voran und kürzte Sozialleistungen massiv. Gesundheit und Erziehung sind die beiden Sektoren, in denen am meisten gespart wurde. Das hat Konsequenzen: Wer eine gute Ausbildung für seine Kinder oder eine adäquate Krankenversicherung für seine Familie will, muss dafür bezahlen. Wer sich das nicht leisten kann, wird schnell zum Sozialfall – wie Sima Revah.
Die Wirtschaft boomt zwar seit fünf Jahren. Aber sie hat die Kluft weiter vertieft. Das Topmanagement konnte seit 2003 beim Einkommen um mindestens 35 Prozent zulegen, während der Lohn des Durchschnittsangestellten stagnierte, stellt das Adva Center for Equality and Social Justice fest. Die neoliberale Wirtschaftspolitik beeinträchtigt die Startchancen der benachteiligten Schichten.
Die Zahl der Unterrichtsstunden hat in den Jahren 2001 bis 2007 um 16 Prozent abgenommen, die Zahl der Klassenzimmer ist verringert worden. Gespart wird auch an den Studenten: Vollere Hörsäle und weniger Neuanschaffungen der Bibliotheken sind die Konsequenzen. Seit 2001 sind auch die Krankenhäuser vom Sparkurs betroffen: Es mangelt an Betten, und die Infrastruktur verlottert, vor allem in der Peripherie (vgl. Interview Seite 14).
Experten warnen bereits vor dem neuen Sicherheitsrisiko »Armut«: Wenn man sie nicht bekämpfe, könnte sie die Stabilität und den Zusammenhalt der heterogenen israelischen Gesellschaft gefährden.

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