niederlande

Trauma, Tod und Tulpen

Sie waren Pioniere im doppelten Sinne. Von 1934 an lebten rund 700 junge Männer und Frauen in Wieringermeer ganz im Norden der Niederlande in einem neu gegründeten jüdischen Dorf. Die Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich sollten in Palästina zu den Ersten gehören, die das Land bewirtschafteten und seine Früchte eintrugen. Doch schon während sie in der eintönigen Weite zwischen Nordsee und Ijsselmeer eine Ausbildung zum Landwirt, Schmied oder Zimmermann absolvierten, übten sie sich in ihrer Rolle als Pioniere. Denn das Hachschara-Lager in dem 1930 trockengelegten Polder gehörte zu den ersten Gebäuden in Wieringermeer. »Es war schlimmer als Armut. Es gab nichts dort«, erinnert sich der Bewohner Werner Zwillenberg in einer Dokumentation an ein »ödes Land ohne Baum und Strauch«.
1941 machten die deutschen Besatzer dem Arbeitsdorf ein Ende und deportierten die meisten Bewohner ins KZ Mauthausen. Lange Zeit stand das verbliebene Hauptgebäude, das die Bewohner selbst errichtet hatten, leer. Heute gehört es zu den spärlichen Hinterlassenschaften jüdischen Lebens im Nordwesten der Niederlande. Die Synagoge im benachbarten Den Helder wurde zerstört, und auch an das nahe der Küste gelegene Internierungslager Schoorl erinnert heute nichts mehr. »Wenn es noch etwas gibt, sollte das geschützt werden«, folgert Ruben Vis, Sekretär der Nederlands-Israelitisch Kerkgenootschap (NIK).
So verwundert es nicht, dass die Pläne des Projektentwicklers Joep Karel auf Widerspruch stießen. Seit ein paar Jahren Eigentümer der Anlage wollte er das Gemeinschaftshaus umbauen lassen, um zur Ern- tezeit 350 polnische Saisonarbeiter unterzubringen. Zudem plante er, ein Zeitarbeitsbüro und einen Laden für die Arbeiter einzurichten.
Die jüdische Dachorganisation Centraal Joods Overleg (CJO) verwahrt sich dagegen. Zwar könne der Ort durchaus für etwas genutzt werden, doch sollte dies mit der historischen Bedeutung in Einklang stehen, so ein Appell an den Gemeinderat von Wieringermeer. Eine Nutzung durch 350 Menschen werde diesem Ziel nicht gerecht. Auch dem Gedenken der Schoa, eines der Hauptanliegen des CJO, sei auf diese Weise nicht gedient. Dirk Mulder, der Direktor des Erinnerungszentrums im ehemaligen Durchgangslager Westerbork, plädierte dafür, die Hachschara-Einrichtung zu einer Gedenkstätte zu machen.
Unterstützung fanden die jüdischen Gruppen in einer lokalen historischen Vereinigung und bei zahlreichen Anwohnern. Letztere hatten indes ganz andere Bedenken, da polnische Saisonarbeiter auch in den Niederlanden das Klischee der konkurrenzlosen Billigjobber aus dem Osten bedienen.
Eine seltsame Melange also, in die sich die jüdischen Organisationen eingebunden sahen. Hinter den Plänen von Projektentwickler Karel steht der Ausbau des nahen Blumenzuchtzentrums Agriport, eines der größten Arbeitgeber der strukturschwachen Region. Die Saisonkräfte im alten jüdischen Dorf unterzubringen, erschien der Verwaltung lukrativ.
Dass sich der örtliche Gemeinderat Ende August dennoch einstimmig gegen die Pläne von Joep Karel entschied, ist nicht allein jüdischen Initiativen zuzurechnen. Nach einigen Fällen, in denen osteuropäische Saisonkräfte unter menschenunwürdigen Umständen untergebracht wurden, werden deren Lebensbedingungen mit Argusaugen begutachtet. Die öffentliche Ankündigung des neuen Eigentümers, vor allem am Gewinn interessiert zu sein, war seinem Ansehen kaum förderlich.
Aus jüdischer Sicht spielte indes noch ein weiterer Grund eine Rolle. NIK-Sekretär Ruben Vis wies darauf hin, dass die polnische Regierung sich bei der Rückgabe des zahlreich in Beschlag genommenen jüdischen Eigentums sehr unkooperativ verhalte. Der Gedanke, dass einige der betreffenden Arbeiter zu Hause womöglich in einem früheren jüdischen Haus wohnten, sei, wie er sagte, in symbolischer Hinsicht »ziemlich bitter«. Tobias Müller

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