Sieben Wochen

Trauern oder freuen

In der Zeit nach Pessach sieht man oft gläubige Männer mit Stoppeln im Gesicht, einem Anflug von Bart. Woher rührt der plötzliche Wunsch, sich zu den Bärtigen dieser Welt zu gesellen? Es ist ein vorübergehendes Phänomen. Die Gesichtsbehaarung wächst nur in den Wochen zwischen Pessach und Schawuot – in der Omer-Zeit – als Zeichen der Trauer.

Eigentlich ist ein »Sefira«-Bart ein Widerspruch an sich. Denn wir freuen uns auf Schawuot, darauf, die Tora wieder zu empfangen und uns von Neuem mit ihr zu verbinden. Aus diesem Grund zählen wir die 49 Tage zwischen Pessach und Schawuot (Sefirat Haomer: Omer-Zählen) und warten ungeduldig auf den großen Tag. Es ist eine glückliche Zeit. Wie konnte es geschehen, dass die jüdische Geschichte eine solche Entwicklung nahm und dieser Zeitraum zu einer Trauerzeit wurde? Seit wann verwandeln sich Begeisterung und Freude in Traurigkeit?

Wir wollen versuchen, diesen scheinbaren Gegensatz aufzuklären und der Frage auf den Grund gehen, welche Widersprüche in der Zeit des Omer-Zählens stecken. In der Tora heißt es: »Vom Tag nach dem Sabbat, an dem ihr die Garbe (Omer) für die Darbringung gebracht habt, sollt ihr sieben volle Wochen zählen. Zählt 50 Tage bis zum Tag nach dem siebten Sabbat, und dann bringt dem Herrn ein neues Speiseopfer dar!« (3. Buch Moses 23, 15-16).

Das »Buch der Erziehung« (Sefer HaChinuch, um 1300) erläutert den Zweck dieses Zählens: »Der ganze Grund für die Existenz des jüdischen Volkes ist nur für die Tora. Und alles Existierende wurde für die Tora erschaffen. Dies war der Grund für die Befreiung und den Auszug aus Ägypten – dass wir am Berg Sinai die Tora in Empfang nehmen. Daher wurde es uns auferlegt, von Pessach bis Schawuot zu zählen, um unsere Begeisterung für und unsere Vorfreude auf den Tag des Überreichens der Tora zu zeigen. Wir sehnen uns nach diesem Tag, wie sich ein Sklave sehnt und die Tage zählt, bis er frei ist.«

Aus dem Sefer HaChinuch wird klar, dass die zwischen Pessach und Schawuot gezählten 49 Tage dafür bestimmt wurden, unserer Hingabe an die Tora leidenschaftlichen Ausdruck zu verleihen.

Zum eben zitieren Tora-Abschnitt gibt es zudem eine erstaunliche Erklärung von Nachmanides (Ramban). Ramban vergleicht die 49-tägige Zählperiode mit Chol Hamoed, den Zwischenfeiertagen. Genau wie der erste und der letzte Tag von Sukkot und Pessach Feiertage sind, mit Quasi-Feiertagen dazwischen, ist auch die ganze Zeit von Sefirat HaOmer, von Pessach bis Schawuot, ein Quasi-Fest – ein Chol Ha-
moed. Es sollte eine Zeit der großen Freude und des Glücks sein. Und doch ist sie das genaue Gegenteil.

Der Talmud (Yevamos 62b) schildert die Omer-Zeit als Periode der Trauer und Betrübnis, weil in diesen Tagen die 24.000 Schüler des Rabbi Akiwa starben.

Wie konnte der Tod der 24.000, so tragisch er war, das Wesen unseres frohen Zählens und der freudigen Vorbereitung auf die Überreichung der Tora derart verändern? Und noch eine Frage. Wenn wir uns Bärte wachsen lassen und in dieser Zeit Musik und Hochzeitsfeiern vermeiden, worüber genau trauern wir?

Die Antwort scheint eindeutig – aus dem Talmud erfahren wir, dass wir um die Schüler des Rabbi Akiwa trauern. Aber so einfach ist es nicht. Zu unserem großen Kummer ist die jüdische Geschichte voll von Tragödien, die genau so furchtbar – oder furchtbarer – sind als jene, die die 24.000 Schüler ereilte. Und doch gibt es kein anderes Gedenken, das beinahe 49 Tage andauert. Unsere Trauer kann nicht der Tatsache geschuldet sein, dass eine so große Zahl – 24.000 – von Menschen starb, denn wir haben in unserer Geschichte Tragödien mit noch viel schrecklicheren Zahlen.

Der Grund für unsere Trauer kann auch nicht sein, dass es 24.000 Rabbiner waren, die starben, weil es viele Tragödien gibt, wo genauso viele Rabbiner – wenn nicht mehr – umkamen. Worüber trauern wir dann? Und wieso ist die Trauerzeit so lang?

Die Antwort ist, dass wir um die Tora selbst trauern, die mit dem Tod der 24.000 Schüler des Rabbi Akiwa verloren ging. Rabbi Akiwa war der führende Tora-Weise des talmudischen Zeitalters. Die Zukunft der Tora-Überlieferung lag in den Händen der Schüler Rabbi Akiwas. Diese Zukunft ist mit ihnen verloren gegangen. Hätte, wie der Talmud weiter berichtet, Rabbi Akiwa nicht fünf seiner Schüler gerettet, wären wir der Tora-Überlieferung für immer beraubt gewesen. Gott sei Dank hat die Tora überlebt. Was wir aber verloren haben, sind die ergänzenden Einsichten und Perspektiven der 24.000 Schüler, die wir niemals wiedergewinnen werden.

Wieso starben die Schüler ausgerechnet in der Zeit zwischen Pessach und Schawuot? Kommentare erläutern, dass wir in dieser Zeit der Sefira besonders zum Zählen verpflichtet sind, um unsere Verehrung und Wertschätzung für die Tora zu beweisen. Der Talmud erzählt, die Schüler des Rabbi Akiwa seien deshalb gestorben, weil sie keine Achtung voreinander hatten. Wenn sie als Tora-Gelehrte keine Achtung voreinander hatten, mangelte es ihnen offenbar an der angemessenen Achtung vor der Tora selbst. Und dies in einer Zeit, in der Gott von uns erwartet, dass wir uns der Ehrerbietung, die wir der Tora schulden, in gesteigertem Maße bewusst sind. Daher starben die 24.000 Schüler – ausdrücklich zwischen Pessach und Schawuot.

Ursprünglich sollten wir unsere Hochachtung und Verehrung für die Tora im Positiven zum Ausdruck bringen, durch das erwartungsvolle Zählen der Tage bis Schawuot. Wir tun das – doch in Trauer. Wir lassen unseren Bart stehen und vermeiden Musik und Hochzeiten, wie es Trauernde tun, weil wir unsere Verehrung für die Tora dadurch zeigen, dass wir Schmerz empfinden über die durch den Tod der 24.000 verlorene Tora.

In gewisser Weise trauern wir, weil es offensichtlich nicht genügte, dass wir als Nation unserer Verbindung mit der Tora durch freudiges Zählen Ausdruck verleihen. Der Vorsehung Gottes schien es notwendig, dass wir in dieser Zeit trauern und unsere Ehrfurcht vor der Tora in trauriger und deprimierter Weise zeigen. Unsere wunderbare Sefira-Periode wurde zu einer 49-tägigen Trauerzeit.

Ist also der »Sefira-Bart« tatsächlich ein solcher Widerspruch an sich? Ja. Es ist fast so, als spräche man von einer »freudigen Trauer«. Doch der Ausdruck erinnert uns an die katastrophale Verwandlung des Omer-Zählens, bei der aus einer großen Freude Trauer und Gram wurde. Von Sefira – einem begeisterten Zählen – wechselten wir zum Bart des Trauernden.

Die Zeit von Sefirat HaOmer ist eine Zeit, in der wir uns auf die Übergabe der Tora vorbereiten. Während die Schüler des Rabbi Akiwa mit ihren Vorbereitungen auf irgendeine subtile Weise scheiterten, darf uns das nicht passieren. Gott sieht auf uns herab und sucht nach Zeichen unserer Begeisterung für die Tora. Wir können unsere Freude über die Heilige Schrift ausdrücken, indem wir versuchen, bessere Menschen zu werden, würdig, die Tora in Empfang zu nehmen.

Viele Menschen versuchen während dieser Zeit, ihren Charakter weiterzuentwickeln; sie nutzen die Pirkei Awot als Leitfaden. Diese 49 Tage sind eindeutig Tage des Urteilens. Danach müssen wir uns richten und uns auf Schawuot vorbereiten. Ein beständiges Thema im Judentum, dem wir nicht entkommen können, ist: Wir müssen uns fortwährend weiterentwickeln.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.aish.com, dem jüdischen Internetdienst aus Jerusalem.

New York

USA blockieren Gaza-Resolution, Israel bedankt sich

Israels UN-Botschafter Danon: »Resolution war Wegbeschreibung zu mehr Terror und mehr Leid«

 21.11.2024

Uni Würzburg

Außergewöhnlicher Beitrag

Die Hochschule hat dem Zentralratspräsidenten die Ehrendoktorwürde verliehen

von Michel Mayr  20.11.2024

Hannover

Biller und Gneuß erhalten Niedersächsischen Literaturpreis

Der Nicolas-Born-Preis wird seit dem Jahr 2000 zu Ehren des Schriftstellers Nicolas Born (1937-1979) verliehen

 20.11.2024

Medien

Ausweitung der Kampfzone

Die israelfeindlichen Täter haben die »NZZ« ganz bewusst zum Abschuss freigegeben. Ein Kommentar

von Nicole Dreyfus  19.11.2024

Ehrung

Josef Schuster erhält Ehrendoktorwürde der Uni Würzburg

Seine Alma Mater ehrt ihn für seine Verdienste »um die Wissenschaft und um das kirchliche Leben«

von Imanuel Marcus  19.11.2024

Frankfurt am Main

Tagung »Jüdisches Leben in Deutschland« beginnt

Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, nimmt teil

 18.11.2024

Libanon

Israelischer Angriff auf Beirut - Sprecher der Hisbollah offenbar getötet

Die Hintergründe

 17.11.2024

USA

Wer hat in Washington bald das Sagen?

Trumps Team: Ein Überblick

von Christiane Jacke  17.11.2024

Madoschs Mensch

Wie eine Katze zwei Freundinnen zusammenbrachte – in einem Apartment des jüdischen Altersheims

von Maria Ossowski  17.11.2024