von Kilian Kirchgessner
Das Leben von Jiri Danicek änderte sich in dem Moment, als er seine Post aus dem Briefkasten nahm. Dieser eine Umschlag fiel ihm gleich auf, grau war er wie alle Briefe zu dieser Zeit. Schon durch das Kuvert zeichneten sich die fetten Lettern des Briefbogens ab: »Statni bezpecnost«, der Name der tschechoslowakischen Staatssicherheit. Sein Herz pochte wild, als Jiri Danicek den Umschlag aufriss. Der Brief war nüchtern formuliert, »Vorladung« stand darin und als Begründung ein knappes »Abgabe von Erklärungen«. Harmlos sah das alles aus, eigentlich. »Aber ich wusste gleich, woran ich bin«, sagt Jiri Danicek.
Noch heute lässt alleine die Absenderadresse einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen: Der Brief kam aus der Prager Bartolomejska-Straße. Hier, mitten in den pittoresken Altstadtgassen, lag das Hauptquartier der Geheimpolizei. Der abweisende Gebäudekomplex umfasste einen ganzen Straßenblock. Kein Unbefugter hatte Zutritt zu dem undurchdringlichen Labyrinth, das sich hinter der grauen Fassade auftat. Schon damals kursierten die Gerüchte über den Zellentrakt im Keller, aus dem mehrere Verdächtige nach ihrer Verhaftung nicht mehr aufgetaucht waren. Die Bartolomejska-Straße – hierhin ist Jiri Danicek vorgeladen worden. Das allein schon sollte ihm zeigen, wie ernst seine Lage war, damals in den 70er-Jahren.
Warum er vorgeladen wurde, das wusste Jiri Danicek intuitiv: Weil er Jude war, und weil er der jüdischen Gemeinde in Prag angehörte. Das genügte als Grund. »Als ich zum Verhör erschien, saß da ein Mann in dem dunklen Büro. Zwischendurch kamen Kollegen rein, die haben sich mit ihren Fragen abgewechselt und mit ihren Rollen: Der eine war der Gute, der andere der Böse«, sagt Jiri Danicek. Ein junger Mann von Ende 20 war er damals, und die Fragen erschienen ihm harmlos. Mit wem er sich so treffe, wollten die Herren wissen. Worüber man in der Gemeinde spreche, welche Aktionen die Gemeinde vorbereite, und ob manchmal Ausländer in den Büros und den Synagogen verkehrten. Zwischendurch musste Danicek stundenlang auf dem Flur warten, einen Stuhl gab es dort nicht und niemand sagte ihm, worauf er eigentlich warten müsse und wie lange. Dann durfte er wieder nach Hause.
»Die haben gar nichts von mir wissen wollen, was sie nicht sowieso schon wussten«, erinnert sich Jiri Danicek. Trotzdem war für ihn seit diesem Tag nichts mehr so wie vorher. Denn die Botschaft, die ihm die Staatssicherheit mit dieser Lektion erteilen wollte, die hatte er sehr gut verstanden: Wir haben dich im Blick, ganz egal, was du anstellst. Wir brauchen hier nur einen Knopf zu drücken in unserer Maschinerie, dann haben wir dein Leben im Griff.
»Einschüchterung, ganz klassische Einschüchterung«, urteilt Ondrej Koutek. Jahrelang hat er sich mit den Methoden der Staatssicherheit beschäftigt, systematisch hat er sich durch die Archive gewühlt. Vor allem hat er die Akten studiert, in denen die kommunistische Partei die Bespitzelung der Juden dokumentiert hat. Tausende Seiten sind es, Aktendeckel an Aktendeckel. Der promovierte Jurist arbeitet im Prager Innenministerium, im Dienste der Vergangenheitsbewältigung kämpfte Koutek sich durch das Material. Längst ist das Papier vergilbt, auf den Seiten drängen sich chiffrierte Aktenzeichen und die endlosen, schreibmaschinenseitenlangen Berichte in den ewig gleichen Funktionärswendungen. Vor Koutek breitete sich ein Panorama aus, das auch ihn als Staatssicherheits-Experten schockiert hat. »Die Juden sind systematisch verfolgt worden«, sagt er, »und dabei hat latent genau das eine Rolle gespielt, was vorher im Dritten Reich ausschlaggebend war: die Vorstellung, dass die Juden versuchten, alle führenden Positionen zu besetzen, um dann mit dunklen Netzwerken die Gesellschaft in ihrem eigenen Sinne zu beeinflussen.«
Wie die Kommunisten mit den Juden umgegangen sind, das hat auch Frantisek Banyai erfahren. Es war beim Tode seines Vaters: Tief im Osten der Tschechoslowakei lebte die Familie damals, der alte Herr war der einzige Zahnarzt weit und breit. Sämtliche kommunistischen Kader der Region waren seine Patienten. Als er starb, besuchte einer der Parteibonzen die Witwe. Ob ihr Gemahl denn jüdisch bestattet werde oder doch zivil, wollte er wissen, um einen Kranz niederzulegen. Aber »bitte verstehen Sie«, natürlich auf keinen Fall auf einem jüdischen Friedhof. Der Sohn des Zahnarztes stand daneben, und plötzlich wurde ihm alles klar: Diese ganze Heuchelei, diese theoretische Religionsfreiheit, die zwar Leib und Leben schützte, aber nicht einmal die Staatschefs an der offenen Ächtung der Juden hinderte. »So war das damals«, sagt Frantisek Banyai kurz angebunden. Heute lebt er in Prag und steht seit gut vier Jahren der jüdischen Gemeinde vor.
Es war ein offenes Geheimnis unter den Gemeindemitgliedern, mit welcher Akribie die Staatssicherheit die Juden beobachtete, einschüchterte und isolierte. Gezielt unterwanderte sie alle jüdischen Einrichtungen im Land, schickte ihre Spitzel aus und suchte inoffizielle Mitarbeiter in den Führungskreisen. »Wer damals in einer der jüdischen Gemeinden im Vorstand saß, hatte garantiert vorher unterschrieben, dass er der Staatssicherheit zutragen wird«, das sagen viele in der Gemeinde. Erklärtes Ziel war es, das hat auch Ondrej Koutek herausgefunden, die tschechoslowakischen Juden mit ihren Namen, Adressen, Berufen und sozialen Kontakten lückenlos zu erfassen – selbst für die Verhältnisse der sozialistischen Geheimdienste ein gigantisches Unternehmen.
Alle paar Jahre ließ die Staatssicherheit eine große Aktion gegen die Juden anrollen, die jedes Mal einen neuen Tarnnamen hatte. Berüchtigt ist vor allem die Operace Pavouk (Operation Spinne). Sie startete bald nach dem Prager Frühling. Bezeichnenderweise waren einige der Machthaber überzeugt davon, dass die gesellschaftliche Liberalisierung der 60er-Jahre das Ergebnis einer zionistischen Verschwörung gewesen sei. Nach Ondrej Kouteks Erkenntnissen haben die Geheimpolizisten 17.205 vermeintlich verdächtige »Personen jüdischer Herkunft« überprüft.
Einer dieser Verdächtigen war Jiri Danicek, der junge Mann, den die Staatssicherheit per Brief vorgeladen hatte. Heute ist Danicek knapp 60 Jahre alt und Vorsitzender der Föderation der jüdischen Gemeinden. Seine Besucher empfängt er im dritten Stockwerk des jüdischen Rathauses, dieses ehrenwerten alten Gebäudes, das mitten im jüdischen Viertel der Prager Altstadt steht und schon seit Generationen das Zentrum des jüdischen Lebens in Tschechien ist. Die Büros sehen so aus, als habe sie seit Jahrhunderten niemand mehr verändert: Tische und Bücherschränke sind aus Nussbaumholz gefertigt und mit prachtvollen Ornamenten verziert. Die Stühle mit ihren hohen Lehnen und dem straffen Lederpolstern erinnern an die Noblesse einer versunkenen Zeit. »Wenn Sie wüssten«, sagt Jiri Danicek, »wie viele Mikrofone wir hier nach der Wende gefunden haben!« Er sitzt an seinem Schreibtisch und zeigt auf drei Stellen im Büro: auf den Sessel, auf die Lampe und aufs Fenster. »Da überall, in jedem Raum waren sie versteckt!«
Dieser Verfolgungswahn der Staatssicherheit habe eine lebendige jüdische Kultur gar nicht erst entstehen lassen. Danicek sagt das mit einem Schulterzucken – so sei das eben gewesen. Ändern lasse sich das ohnehin nicht mehr. Die Mikrofone seien aber wirkungslos geblieben: »Wenn man etwas Wichtiges zu besprechen hatte, ist man dafür spazieren gegangen.« Er habe sowieso nicht mit jedem geredet.
Viel bedenklicher als diese offene Spionage waren deshalb die vielen perfiden Methoden, von denen vor der Wende niemand etwas geahnt hatte. »Nehmen Sie den Fall eines kleinen Staatsunternehmens, in dem zufällig zwei Männer mit jüdischen Wurzeln die Geschäftsführer waren«, sagt der Forscher Ondrej Koutek. »Für die Staatssicherheit war das natürlich eine verdächtige Häufung, und schon bald ist einer der beiden in eine andere Firma versetzt worden. Bis heute ahnen diese Leute häufig nicht, dass dahinter eine Kommandoaktion der Polizei gestanden hat.« Durchgesickert sind nur die Manöver, die sich kaum geheim halten ließen: die Fälle von Kollaboration, von Denunziation, von menschlicher Schwäche. Um Informanten zu gewinnen, setzte die Geheimpolizei gezielt auf Erpressung. Eine ganze Sammlung an schmutzigen Tricks und Methoden hat er gefunden, sagt Ondrej Koutek. »Am wirkungsvollsten war es, die Familie mit reinzuziehen.« Da kamen zum Beispiel zwei unauffällige Männer zum Gemeindevorsteher und deuteten an, dass ja noch lange nicht sicher sei, ob der Sohn seine bevorstehenden Abiturprüfungen bestehe. Oder ob er danach den erhofften Studienplatz bekomme. »Bei solchem Druck hat fast jeder unterschrieben, dass er künftig Informationen weitergeben werde«, sagt Koutek
Für Frantisek Banyai, den Prager Gemeindevorsitzenden, ist das auch knapp 20 Jahre nach der Wende noch ein denkbar schwieriges Thema. »Wie soll man das Gemeindeleben gestalten, wenn viele der Beteiligten auf irgendeine Art belastet sind?« Gleich nach der Wende sind zwar die alten Vorsitzenden wegen ihrer mutmaßlichen Verstrickungen abgetreten, aber wem konnte die Gemeinde überhaupt noch glauben, nach so vielen Jahren des geschürten Misstrauens und der Intrigen? »Jeder Kandidat für den Gemeindevorstand musste damals vor der Wahl versichern, dass er der Staatssicherheit nicht willentlich zugearbeitet hat«, sagt Fran- tisek Banyai. Ganz wohl ist ihm bis heute nicht bei dieser Art der Vergangenheitsaufarbeitung: »Wie viel zählt eine Unterschrift bei der Staatssicherheit, die jemand nach einer Erpressung geleistet hat? Und nicht jeder aktenkundige Zuträger hat auch tatsächlich Informationen weitergegeben. Wie wollen Sie das alles bewerten?«
Das Ausmaß dieses Dilemmas zeigt sich im Fall eines jungen Mannes aus Prag, der Rabbiner werden wollte. Für den Studienplatz verlangte die Staatssicherheit seine Unterschrift zur Kollaboration. Einige Gemeindemitglieder drängten ihn zu dieser Zusage. »Wir brauchen dich«, sagten sie. »Die Unterschrift alleine tut ja niemandem weh.« Der Kandidat hat unterschrieben. Ist er damit ein Opfer seiner Zeit, dem man heute nichts vorwerfen kann? Oder ist er als Rabbiner nicht haltbar, weil er moralische Standfestigkeit hat vermissen lassen?
Im jüdischen Rathaus in der Prager Altstadt sind die Abhörmikrofone längst verschwunden. Das Misstrauen ist geblieben.