von Rabbiner Boruch Leff
»Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 kein Kapitalist ist, hat keinen Verstand« (George Bernard Shaw). Zum ersten Mal hörte ich diesen Spruch, als ich 21 Jahre alt war und »das System« verändern wollte. Die Diskussionsgruppe am College, wo ich studierte, war zu groß und tagte nicht so oft, wie ich es für nötig hielt. Als ich einmal in vollem Galopp mit einem Stapel Petitionen unterm Arm un-
terwegs war, sagte ein älterer Student zu mir: »Ich unterzeichne die Petition, aber irgendwelche Folgen wird sie nicht ha-
ben.« »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Die Sache ist so logisch und ganz leicht umzusetzen. Ich bin überzeugt, dass der Universitätspräsident zustimmen wird!« »Na schön«, gab er zurück. »Das wird sich zeigen. Aber erinnere dich, was George Bernard Shaw gesagt hat. Du musst be-
greifen, dass du die Welt nicht verändern kannst.«
Das schlug in diesem Augenblick ein wie eine Bombe. Die Auswirkungen spüre ich bis zum heutigen Tag. Das Zitat hat mich seitdem verfolgt. Was bedeutete es eigentlich? Wenn man überzeugt ist, dass der Kommunismus richtig ist, warum würde man dann nicht dabeibleiben?
Vor Kurzem feierte ich meinen 30. Ge-
burtstag. Inzwischen bin ich von der Wahrheit des Shaw’schen Aphorismus fest überzeugt. Mit der Idee vertraut machte mich zunächst das Studium der Tora. Der Kabbalist Nachmanides erklärt, die ganze Weisheit der Welt könne in der Tora entdeckt werden. Danach begriff ich den Gedanken umso besser, je mehr Erfahrungen ich im Leben machte.
Wir alle kennen die biblische Geschichte von Josef. In einer dramatischen Wende wandelt sich Josef innerhalb von ein paar Stunden vom Insassen eines Kerkers in den Premierminister Ägyptens. Die Tora scheut keine Mühen, uns mitzuteilen, dass Josef 30 Jahre alt war, als er seine Herrschaft über Ägypten (1. Buch Moses 41,46) antrat. Wieso ist es wichtig, dass wir das wissen?
Der berühmte Kommentator Raschbam aus dem 12. Jahrhundert erklärt, jemand sei mit 30 »der Führerschaft würdig«. Interessanterweise liegt auch das Mindestalter für die Wahl zum US-Kongress bei 30 Jahren. Aber warum ist es von so überragender Bedeutung, dass jemand mit 30 bereit ist, Führungsaufgaben zu übernehmen?
Die Antwort habe ich beim Studium der Gesetze von Rosch HaSchana an ei-
nem unwahrscheinlichen Ort entdeckt. Der jüdische Gesetzeskodex (O.C. 581,1) belehrt die Gemeinden, sie sollten bei der Wahl eines Kantors, der den Gottesdienst an den Hohen Feiertagen leitet, auf gewisse Eigenschaften achten: Unter anderem sollte der Kantor mindestens 30 Jahre alt sein sollte. Warum? Die Mischna Brura erläutert, der Grund bestehe darin, dass ein 30-Jähriger demütig und verzweifelt ist und daher aufrichtig »von Herzen beten« kann.
Offensichtlich sieht die Tora den 30. Geburtstag als »Augenblick der Wahrheit«, in dem gewisse Realitäten des Le-
bens sich verfestigen. Und nur dann, wenn jemand sich diese Realitäten zu Eigen macht, kann er führen – egal ob im öffentlichen Leben oder im Gebet. Wie sehen diese Realitäten aus?
Als ich 20 Jahre alt war, war die Welt ein offenes Buch. Ich glaubte, ich könnte alles tun und alles erreichen und dabei von Luft und Liebe leben. Ich würde eine weltberühmte Persönlichkeit werden – ich würde erziehen und inspirieren, führen und lieben –, alles ohne Kampf und ohne Anstrengung.
Jetzt, nachdem ich die Zwanziger durchlebt habe und zahlreiche Erfahrungen mir die Augen geöffnet haben – Jobs, die voller Überraschungen steckten, Beziehungen, die schwierig zu pflegen und aufrechtzuerhalten waren, Nachbarn, mit denen es ständig Reibereien gab –, sehe ich die Welt viel weniger idealistisch als einst.
Keine meiner Hoffnungen und Träume wurde Wirklichkeit, und es ist schwer, zu sehen, wann und ob sie es jemals werden. Ich weiß jetzt, dass nur wenig Menschen auf der Welt ihren Traumberuf ausüben und dass die meisten Menschen nicht glauben, sie schöpften ihr Potenzial voll aus. Kurz: Nichts im Leben gelingt so, wie man es sich gedacht und erhofft hatte.
Während ich darüber nachdenke, bin ich in der Tat ein wenig verzweifelt und demütig. Heute lebe ich als Kapitalist, als Realist, genau wie Shaw sagt. Meine kommunistischen Tage, meine idealistischen Tage, sind so gut wie ganz entschwunden.
Aber dann dämmerte es mir. Muss ich meinen Kommunismus wirklich völlig fallen lassen?
Kommunismus ist eine wunderbare Idee, ein großartiger Traum: ohne Klassenneid ist für alle Mitglieder der Ge-
sellschaft gesorgt – doch er ist nicht praktikabel. Es ist wahr, man kann nicht alle seine Träume in die Tat umsetzen. Sie sind nicht praktikabel. Vielleicht aber würden einige von ihnen doch funktionieren.
Als mein Geburtstag herangekommen war und ich diesen Gedanken nachhing, sandte Gott einen Boten, um mich zu leiten. Zufällig traf ich einen Freund. »Ich habe gerade ein großartiges Zitat gelesen«, sagte mein Freund: »›Sobald deine Erinnerungen größer als deine Träume sind, ist das Ende nahe.‹«
Deshalb habe ich einen Geburtstagsentschluss gefasst. Ich werde ein Träumer bleiben, und zwar ein realistischer Träumer. Als 30-Jähriger bin ich jetzt »würdig der Führerschaft«. Ich werde weise und praktisch sein und nicht versuchen, hoffnungslose Fantasien in die Wirklichkeit umzusetzen. Ich bin demütig und verzweifelt genug, um zu wissen, wie man sich von sinnlosen Träumen verabschiedet.
In der Tat erklärt der Talmud (Pirkei Awot 5,26): »Im Alter von 30 Jahren empfängt man Stärke« – das heißt die Charakterstärke, die man braucht, um Lebensziele zu verfolgen. Zwischen 20 und 30 lebt man nach der Trial-and-error-Methode. Das darauffolgende Jahrzehnt ist gesicherter: In seinen Dreißigern konzentriert ein Mensch sich auf seine echten Begabungen, auf realistische Ziele und tatsächliche Leistungen.
Das alte Klischee ist wahr: Ein Hansdampf in allen Gassen bringt es in keinem Fach zum Meister. Die Zwanziger sind der Tummelplatz, um zu einem Hansdampf in allen Gassen zu werden. Die Dreißiger müssen die Zeit sein, in der man von seinen Talenten jene zu meistern lernt, die in eine praktische Richtung führen.
Ja, George Bernard Shaw, du hattest recht! Aber trotz alledem werde ich immer ein klein wenig Kommunist bleiben.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Aish HaTorah, Jerusalem/Israel
www.aish.com