von Detlef David Kauschke
»Dreams are my reality«, sang einst Richard Sanderson. Träume sind Realität, das gilt nicht nur für diesen Ohrwurm aus den Achtzigern. Die nächtlichen Fantasien und deren Deutung haben Menschen schon seit dem Altertum beschäftigt. Für den Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, war die Traumdeutung der Königsweg zum Unbewußten. Während manche die Beschäftigung damit als Unfug abtun (»Träume sind Schäume«), ist es für andere eine ernstzunehmende Aufgabe. Der Münchner Psychologe Max Segeth veranstaltet Traumseminare, in denen er eine eigene Methode als Zugang zu diesem Phänomen vermittelt. »Wenn wir die nächtlichen Stunden zusammenrechnen, träumen wir 25 Tage im Jahr und etwa fünf bis sieben Jahre eines ganzen Lebens«, sagt Segeth. Für ihn steht außer Frage: »Träume geben uns Hinweise darauf, wo wir stehen und was unsere Lebensaufgabe ist.« Traumdeutung hat auch etwas mit Heilung zu tun. Traum auf hebräisch heißt Chalom. Chalem bedeutet genesen. Chalon wiederum ist das hebräische Wort für Fenster. Danach ist der Traum auch als Ausblick zu verstehen.
In der jüdischen Tradition haben Träume und ihre Deutung stets eine wichtige Rolle gespielt. In den biblischen Schriften gibt es zahlreiche Beispiele. Die bekannteste Geschichte ist vielleicht die von Josef, der in ägyptischer Gefangenschaft die Visionen seiner Mithäftlinge deutet und mit göttlichem Beistand nicht nur aus der Haft befreit wird, sondern später auch die Träume des Pharaos deuten kann. Da die Ägypter sich auf seine Traumdeutung verlassen, bleiben sie von einer schweren Hun-
gersnot verschont.
In der Bibel macht Gott in Träumen seinen Willen deutlich oder kündet bestimmte Ereignisse an. So gibt es zum Beispiel die direkte Zwiesprache mit Moses: »Im Traume rede ich zu ihm« (4. Buch Moses, 12,6). Ebenfalls wendet sich Gott direkt an Davids Sohn: »Und Schlomo erwachte und siehe, es war ein Traum« (1. Könige 3,15). Dann verweigert er sich auch, wie von Schaul (1. Samuel 28,15) berichtet wird: »Gott ist von mir gewichen und antwortet mir nicht mehr, weder durch Propheten noch durch Träume«. Und immer wieder geht es um den Versuch, das Geträumte zu verstehen: »Und der König sprach zu ihnen: Einen Traum habe ich geträumt, und das Herz schlägt mir, den Traum zu verstehen« (Daniel 2,3).
Auch im Midrasch und vielen kabbalistischen Werken nimmt das Thema breiten Raum ein. Und allein im Talmud ist über 200 Mal vom Traum die Rede. Dort steht einerseits: »Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief« (Brachot 55a). Andererseits ist dort auch zu lesen, daß die nächtliche Fantasie eigentlich keine besondere Bedeutung hat: »Man zeigt dem Menschen nur das, woran sein Herz denkt« (Brachot 55b).
Mit dieser Widersprüchlickeit hat sich Michael Tilly, Hochschuldozent am Seminar für Judaistik der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität, auseinandergesetzt. Er hat für das im Marixverlag er-
schienene Buch Traum und Traumdeutung im Talmud (Wiesbaden, 2006, 192 Seiten, 10 Euro) das Vorwort geschrieben. Darin heißt es: »Die unterschiedlichen Äußerungen über Träume und ihre Deutung in der rabbinischen Traditionsliteratur zeigen bei aller Uneinheitlichkeit, daß auch die jüdischen Gelehrten ihnen ein großes Interesse entgegenbrachten. Die Mehrzahl der Weisen, die in diesen Texten zu Wort kommen, hält Träume durchweg für bedeutsam hinsichtlich des Verhaltens und des Schicksals eines Menschen.«
Das Buch, das unter anderem eine umfangreiche Textsammlung aus dem babylo-nischen Talmud enthält, ist die Neuausgabe eines 1923 erschienenen Bandes der Reihe »Monumenta Talmudica«. Diese Schrift war auch eine Grundlage für Michael Tilly, sich mit diesem hochspannenden Thema zu beschäftigen. »Denn die Traumdeutung ist sogar älter als die rabbinische Überlieferung«, erläutert er. »Das besondere an der im Talmud ausführlich behandelten Traumdeutung ist, daß sie sich stets auf den Tenach, also die biblischen Schriften, bezogen hat.«
Traumdeutung war zu talmudischen Zeiten ein einträgliches Geschäft. Bar Hedja zum Beispiel war Traumdeuter in der Mitte des vierten Jahrhunderts. »Wer ihm Lohn gab, dem deutete er Gutes, wer ihm keinen Lohn gab, dem deutete er Böses« (Brachot 56 a). Kein Wunder also, daß es viele gab, die diesen Service anbieten wollten. In Jerusalem, so berichtet Raw Bana in der Überlieferung, gab es zu seinen Zeiten 24 Traumdeuter: »Einst hatte ich einen Traum und ging zu allen, und was mir der eine deutete, deutete mir der andere nicht, aber alles ging mir in Erfüllung« (Brachot 55b).
Ein talmudisches Konzept ist übrigens, daß ein Traum erst dann an Wirksamkeit gewinnt, wenn er gedeutet wird. »Erst in diesem Moment wird er wirkmächtig«, sagt Hochschuldozent Michael Gilly.
Gedeutet wurden die Träume durch verschiedene Methoden. Zum Beispiel durch die Interpretation von Worten oder Buchstaben. Ein Elefant (Pil) symbolisiert dabei ein Wunder (Pele). Der im Schlaf gesehene Buchstabe Tet ist ein positives Zeichen, denn er steht für das Wort Tow (gut).
Eine andere Möglichkeit war die Interpretation von Symbolen oder geträumten Ereignissen: »Ich sah, daß meine beiden Hände abgeschnitten wurden. Dieser erwiderte: Du wirst deiner Hände nicht mehr bedürfen« (Brachot 56b). Auch der Traum von abgehackten Füßen ist ein Hinweis auf ein zukünftig bequemeres Leben: »Du wirst auf einem Pferd reiten« (Brachot 56b). Steigt jemand in seiner nächtlichen Fantasie auf ein Dach, wird das als künftige Größe gedeutet. Steht jemand im Traum nackt da, ist er frei von Sünde. Ein Rabe bedeutet den Ehebruch der Frau, eine Gans die Weisheit, Oliven stehen für gute Geschäfte und die Palme ist Symbol hohen Wachstums.
Ein Problem hatten die Traumdeuter allerdings: Ihre eigenen nächtlichen Visionen konnten sie sich nicht erklären (Yoma 28 b).
Und was ist mit dem, der nicht träumt? Nichts Gutes, denn im Talmud heißt es: »Wer sieben Tage ohne Traum übernachtet, heißt ein Böser« (Brachot 14 a).
Doch der Schweizer Trauminterpret Erich E. Müller kann beruhigen: »Immer wenn wir schlafen, träumen wir.« Vielfach vergessen wir einfach nur unsere Träume nach der Nacht, weil sie für uns keine Relevanz haben, sagt Müller. »Aber wenn sie für uns wichtig sind, können wir das Traumerlebnis auch meist in die Tagesrealität hinüberretten.«
Und zum Schluß hat nicht der Traumforscher, sondern wieder der Talmud auch Patentrezepte, um schlechte Träume zu vermeiden. »Wer sich vorher mit den Worten der Tora sättigt und dann übernachtet, dem verkündet man keine schlechten Botschaften« (Brachot 14a). Vor dem Schlafengehen also in der Bibel lesen. Na dann: Chalomot Paz (goldene Träume)!