von Rabbiner Berel Wein
Träume spielen eine wichtige Rolle in unserem Leben. Träume sind notwendig für einen erholsamen und erfrischenden Schlaf. Meistens können wir uns beim Aufwachen nicht an unsere Träume erinnern. Es gibt jedoch Zeiten, in denen uns der Traum selbst in den Stunden des Wachseins begleitet. Das gilt vor allem, wenn der Traum beängstigend oder verstörend, ein Albtraum war. Zuweilen sind Träume auch vorausahnend, beinahe prophetisch. Lincoln träumte kurz vor dem Attentat auf ihn von seiner eigenen Ermordung. In Träumen kommunizieren wir mit jenen, die nicht mehr auf dieser Erde weilen. Kurz: Träume sind natürliche Ereignisse, die manchmal übernatürliche Eigenschaften annehmen. Wenn wir jemandem, der sich schlafen legt, »angenehme Träume« wünschen, ist das kein leerer Spruch.
Das Judentum nimmt Träume sehr ernst. In der Bibel lesen wir von den Träumen, die die Großen Israels – Abraham, Jakob, Josef und viele der Propheten – träumten. Das Judentum vertritt die Auffassung, dass alle Prophezeiungen, außer der Prophezeiung von Moses, den Propheten mitgeteilt wurden, als sie sich in einer traumähnlichen, beinahe katatonischen Trance befanden. Maimonides geht so weit zu sagen, dass die Ereignisse um König Saul und die Hexe von Ein Dor, als der Geist des Propheten Samuel von den Toten heraufstieg, in Wirklichkeit ein Traum von König Saul waren, den die Bibel als Tatsachenbericht wiedergibt.
Daher ist es verständlich, dass die jüdische Tradition und insbesondere der Talmud vieles über Träume und ihre Wirkung auf uns zu sagen haben. Verweise auf Träume und ihren Sinn sind über alle Seiten des Talmuds verstreut, und ein Kapitel von Masechet Berachot ist fast zur Gänze dem Thema Träume und ihrer Interpretation gewidmet.
Die grundsätzliche Regel, die der Talmud im Hinblick auf Träume aufstellt, ist, dass sie in Erfüllung gehen gemäß der Interpretation, die ihnen zuteil wird. Daher kann ein scheinbar schlimmer oder furchterregender Traum positiv gedeutet werden; eine solche Deutung verhindert, dass böse Auswirkungen dieses Traums jemals tatsächlich eintreten. Es gibt eine Zeremonie in der jüdischen Tradition, die Hatowat Chalom heißt – wörtlich: den Traum zu einem guten Traum machen. Wer misslicherweise in der Nacht einen Albtraum hatte, sollte seinen Rabbiner oder ein Rabbinatsgericht aufsuchen und um eine endgültige positive Deutung des Traums bitten.
Es gibt eine Formel, die vom Träumenden und vom Gericht oder dem einzelnen Rabbiner rezitiert wird, um
diese Umwandlung eines furchteinflößenden Albtraums in ein positives Omen möglich zu machen. Alles hängt von der Deutung ab. Dies gilt nicht nur für Träume. Tatsächlich lehren uns dieRab biner, dass bei allen Ereignissen des Lebens der Schlüssel für künftiges Gelingen oder Misslingen in der Deutung, das heißt in dem, was man daraus macht, liegt.
Der Talmud hält ein weiteres Gegenmittel für uns bereit, das gegen die Wirkung von Albträumen auf den Menschen hilft. Und das ist ein Fastentag. Dieses Taanit Chalom – Fasten wegen eines Traums – wird als eine so mächtige Waffe gegen von Träumen verursachte Depressionen bewertet, dass man sogar am Schabbat fasten darf, einem Tag, an dem das Fasten normalerweise verboten ist, es sei denn, Jom Kippur fällt auf einem Schabbat. Dem Betreffenden wird als Buße dafür, am Schabbat gefastet zu haben, ein zusätzlicher Fastentag auferlegt. Nichtsdestoweniger ist das Fasten am Schabbat wegen eines verstörenden Traums aufgrund des starken psychologischen Drucks und der depressiven Wirkung, die ein Traum haben kann, erlaubt.
Wie man sehen kann, nahm der Talmud Träume sehr ernst. Dennoch hielten die Lehrer fest, dass selbst ein semiprophetischer Traum abstruse, unzutreffende Visionen enthalten kann. So wie es keinen Weizen ohne Spreu gibt, können auch Träume nicht ohne Falschheiten und einen Anflug von Sinnlosigkeit sein. Wie man die Spreu vom Weizen, den Unsinn von der eigentlichen Botschaft scheidet, liegt bei der Deutung des Traumes.
Der Psalmendichter lehrt uns, wir werden wie »Träumer« sein, wenn die Wiederherstellung Zions vollendet sein wird und die Exilanten in das Land Israel zurückkehren. Jahrtausendelang träumten Juden davon, wieder im Land Israel zu leben. Für Millionen Juden ist der Traum in gewissem Sinne Wirklichkeit geworden. Auch wenn hier kein perfekter Zustand erreicht wurde und viele Probleme, vorhergesehene und unvorhergesehene, uns bedrängen. Dennoch ist es auch hier unsere Deutung, die den Traum von Zion bedingt. Und unser Fasten und unser Gefühl für Opfer und unsere Beharrlichkeit.
Der Traum der Zeiten hat einen Teil Wirklichkeit angenommen. Was wir daraus machen, wird uns kundtun, was der Traum eigentlich prophezeite.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.rabbiwein.com