von Yizhak Ahren
Bei der Beurteilung wissenschaftlicher Theorien spielt in der Regel die ethnische oder religiöse Herkunft des jeweiligen Forschers oder Denkers keine Rolle. Ausschlaggebend für die Bewertung sind die innere Stringenz der Theorie und ihre empirische Beweisbarkeit.
Im Fall der Psychoanalyse Sigmund Freuds ist das anders. Das Judentum ihres Begründers war und ist immer wieder Thema. Nicht nur die Judenfeinde unter Freuds Kritikern haben seine Theorie abwertend als eine »jüdische Wissenschaft« bezeichnet. Auch ein erklärter Gegner des Antisemitismus wie der amerikanische Psychologe William McDougall sah im Judentum den Kern der Psychoanalyse: »Freuds berühmte Theorie ist eine Theorie der Entfaltung und Tätigkeit der Seele, die von einem Juden entwickelt wurde, der hauptsächlich jüdische Patienten untersucht hat; und sie scheint Juden sehr stark anzusprechen.« Besonders krude äußerte sich der bekannte israelische Philosoph Jeshajahu Leibowitz: »Die Psychoanalyse ist hauptsächlich eine jüdische Möglichkeit, Geld zu verdienen; das ist ein schlechtes Zeichen für die Juden.« Ironie des Schicksals: Ein Enkel von Leibowitz, Yoram Yovell, ist ein bekannter Psychoanalytiker, dessen schöne Falldarstellungen übrigens auch ins Deutsche übersetzt worden sind.
Freud selbst hat die These von der Psychoanalyse als »jüdische Wissenschaft« in einem Brief an seinen Schüler Karl Abraham 1908 so kommentiert: »Seien Sie versichert, wenn ich Oberhuber hieße, meine Neuerungen hätten weit geringeren Widerstand gefunden.«
Dabei hat der erste Psychoanalytiker um seine jüdische Herkunft nie ein Hehl gemacht. Bei einer Feier zu seinem 70. Geburtstag bemerkte er: »Ich war Jude, und es war mir immer nicht nur unwürdig, sondern direkt unsinnig erschienen, es zu verleugnen.«
Der väterlichen Religion war Freud allerdings völlig entfremdet. Er war bekennender Atheist. Gott war für ihn »im Grunde nichts anderes als ein erhöhter Vater«. Kurz vor seinem Tod 1939 veröffentlichte er eine Studie über das Judentum, »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«. In einer Umerzählung der biblischen Geschichte behauptete Freud dort, daß Moses ein Ägypter war und daß die Juden ihren Lehrer nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste ermordet hätten. Sogar überzeugte Freudianer waren von dieser These ihres Meisters nicht begeistert. Kern der Mosesstudie aber war die Frage, »wie das jüdische Volk die Eigenschaften erworben hat, die es kennzeichnen«. Freud war der Ansicht, daß die jüdische Religion den Charakter des Juden ge- formt und damit ihre entscheidende Funktion erfüllt hatte. »Die in der jüdischen Seele verankerten Charakterzüge werden phylogenetisch weitergegeben und bedürfen keiner Religion mehr, um erhalten zu bleiben.«
Der amerikanisch-jüdische Historiker Yosef Hayim Yerushalmi hat 1991 ein Buch über Freuds Mosesstudie veröffentlicht. Im Untertitel heißt das Buch »Endliches und unendliches Judentum«. Damit bringt Yerushalmi Freuds Deutung des Judentums auf eine einprägsame Formel. Die historische Religionsform ist das »endliche Judentum«, ihre rationalistische Aufhebung das »unendliche Judentum«. Das Wort vom »unendlichen Judentum« bedeutet, daß Jüdischsein unabhängig von der religiösen Praxis (Tora-Studium und Ausübung der Gebote) weitergegeben werden kann.
Im letzten Kapitel seines Buches spricht Yerushalmi Freud direkt an: »Ich glaube, daß Sie im tiefsten Herzen davon überzeugt waren, daß die Psychoanalyse selbst eine weitere, wenn nicht die letzte, verwandelte Ausprägung des Judentums ist, welche, aller illusorischen religiösen Formen entkleidet, die entscheidenden monotheistischen Merkmale bewahrt, wenigstens in dem Sinne, wie Sie sie verstanden und geschildert haben. Kurzum, meines Erachtens glaubten Sie, die Psycho- analyse sei gottloses Judentum, genau wie Sie ein gottloser Jude sind.«
Freud wäre mit dieser These nicht einverstanden gewesen. Für ihn war Psychoanalyse keine Religion, auch nicht eine Philosophie, sondern »eine Forschungsmetho-
de, ein parteiloses Instrument«. Er könnte darauf verweisen, daß unter den praktizierenden Psychoanalytikern Atheisten, gläubige Christen und auch orthodoxe Juden zu finden sind. Das betont der in Israel wirkende Freudianer Moshe Halevi Spero, der in zahlreichen Veröffentlichungen eindrucksvoll gezeigt hat, wie Psychoanalyse und Judentum von einem Dialog miteinander profitieren können.
Sigmund Freud war ein ehrgeiziger Mann. Er wollte sich einen Platz in der Geschichte der Psychologie sichern. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen, wie die vielen Veranstaltungen, Veröffentlichungen und Fernsehprogramme zu Freuds 150. Geburtstag zeigen. Daß er auch als jüdischer Denker gefeiert wird, hätte Freud aber sehr überrascht.