»Ich werde in zwei Monaten 61. Ich kam vor 5o Jahren mit meinen Eltern nach Deutschland, ich schreibe seit 4o Jahren. Ich bin ein Bundesbürger mit Migrationshintergrund, ein Beutedeutscher. Meine Eltern haben den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust überlebt. (....) Ich weiß, ich bin ein Glückskind. Ich habe noch jeden Charterflug überlebt, letztes Jahr einen Bestseller geschrieben und eine Tochter, die soeben das Abitur gemacht hat – mit einer Note, die mich an meiner Vaterschaft zweifeln lässt.
Und doch verspüre ich immer öfter ein leises Unbehagen, sobald ich mein Arbeitszimmer verlasse und mich in die Welt begebe, und sei es nur zum Zeitunglesen ins Café Einstein. Es ist kein Katzenjammer, der aus dem Überfluss resultiert, kein Weltschmerz, der sich sich selbst genügt, es ist das Gefühl: Bin ich verrückt oder sind es die anderen?
Von Oskar Panizza stammt der Satz: »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.« Und diese Art von irrer Vernunft scheint allgegenwärtig. (...) Der gesunde Menschenverstand wurde außer Kraft gesetzt und durch drei Untugenden ersetzt: Äquidistanz, Relativismus und Toleranz.
Ja, Sie haben sich nicht verhört: Ich sagte Toleranz. Toleranz war das Gebot der Zeit, als Lessing seinen Nathan in eine Welt setzte, die vertikal organisiert war. die einen waren oben und die anderen waren unten und dazwischen war wenig. Aber in horizontal organisierten Gesellschaften, in denen es kein Oben und kein Unten, sondern ein breites Spektrum an homogenisierten Angeboten gibt, unter denen man wählen kann, in horizontal organisierten Gesellschaften kommt das Toleranzgebot nicht den Schwachen, sondern den Rücksichtslosen zugute. Sie sind es, die mit der Toleranzkeule um sich schlagen und Rechte einfordern, die sie anderen verweigern. (…) Wir werden täglich aufgerufen, für alle möglichen Fundamentalismen und Fanatismen Verständnis zu haben und Toleranz zu praktizieren, Vorleistungen zu erbringen, ohne Gegenleistungen zu erwarten. Ein deutscher Nobelpreisträger hat den Vorschlag gemacht, eine Kirche in eine Moschee umzuwidmen, als Goodwill-Geste den Moslems gegenüber. Bis jetzt warten wir vergeblich auf den Vorschlag eines islamischen Intellektuellen, eine Moschee in eine Kirche umzuwandeln, denn so eine Idee, öffentlich geäußert, könnte ihn sein Leben kosten.
Toleranz steht auf dem Paravent, hinter dem sich Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit verstecken. Toleranz ist die preiswerte Alternative zum aufrechten Gang, der zwar gepredigt aber nicht praktiziert wird. Wer heute die Werte der Aufklärung verteidigen will, der muss intolerant sein, der muss Grenzen ziehen und darauf bestehen, dass sie nicht überschritten werden. Der darf »Ehrenmorde« und andere Kleinigkeiten nicht mit dem »kulturellen Hintergrund« der Täter verklären und den Tugendterror religiöser Fanatiker, die 16-jährige wegen unkeuschen Lebenswandels hängen, nicht zur Privatangelegenheit einer anderen Rechtskultur degradieren, die man respektieren müsse, weil es inzwischen als unfein gilt, die Tatsache anzusprechen, dass nicht alle Kulturen gleich und gleichwertig sind.
Wer sich zur selektiven Intoleranz bekennt, der wird auch darauf achten, nicht in die Falle der Äquidistanz und des Relativismus zu tappen. Inzwischen kann man auf jeder Tupperwareparty Punkte sammeln, wenn man nur erklärt, George Bush und Osama bin Laden seien aus demselben Holz geschnitzt, die Zahl der Menschen, die bei Terroranschlägen ums Leben kommen, sei viel kleiner als die Zahl der Verkehrstoten und die christlichen Kreuzfahrer hätten viel mehr Blut vergossen als die islamischen Terroristen heute. So kann man sich aus der Wirklichkeit schleichen, aber man entkommt ihr nicht.«
Börnepreis