Vielen gilt er als skurrile Randfigur der Literaturgeschichte, ein Bürgerschreck und Bohemien. Doch Erich Mühsam, der vor 75 Jahren im KZ Oranienburg bei Berlin von den Nazis buchstäblich zu Tode gequält wurde, war mehr. Der Dichter und Anarchist, Spross einer wohlhabenden jüdischen Apothekerfamilie, war Idealist, Menschenfreund und Staatsfeind zugleich, scheinbar wie geboren zum Märtyrertum. Beschrieben wird er als ein mitunter auch naiver Dulder, dem das Frohe und Kindliche, das in ihm steckte, das Grundgute und Lebensbejahende auch durch Verfolgung, Haft und Folter nicht gebrochen wurde.
Schon von seinem äußeren Erscheinungsbild entsprach Erich Mühsam all- dem, was die Nazis hassten: ein wirrbärtiger Jude mit Bratenrock und Kneifer, ein Intellektueller, der revolutionäre Schriften veröffentlichte, als kompromissloser Anarchist die leibhaftige Verkörperung von Spott und Subversion. Im Kaiserreich, dessen Militarismus er auch während des Ersten Weltkriegs geißelte, hatten ihn die Behörden nicht ernst genommen. In der Weimarer Republik, die ihre frühen Jahre auch dem Schutz durch die Konterrevolution verdankte, brachte ihm sein Engagement für die Münchner Räterepublik – Mühsam, Jahrgang 1878, war befreundet mit deren Protagonisten Gustav Landauer, Kurt Eisner und Eugen Leviné – nach deren Sturz jahrelange Festungshaft ein. Dort entstanden Gedichte wie Brennende Erde, das Drama Judas und etliche politische Texte.
Mühsam war ein Linker. Aber weder Sozialdemokraten noch Kommunisten konnten sich mit dem unabhängigen Geist anfreunden – und er sich mit ihnen auch nicht. Gerade mal sechs Wochen war er Mitglied der KPD, die er dann schaudernd vor ihrer bornierten Engstirnigkeit floh. »Gott, Leben, Brunst, Rausch, Chaos. Lasst uns chaotisch sein!« Das war sein Programm. Seine Arbeit als Redakteur oder Herausgeber linksanarchistischer Zeitschriften wurde häufig unterbrochen durch Gefängnisstrafen. Als am 28. Februar 1933 der Reichstag brannte, versuchte er der Verhaftungswelle der Nazis zu entkommen, wurde aber noch in der Nacht als »politisch verdächtige Person« festgenommen und in das Lager Oranienburg verschleppt. Vergeblich versuchte die SS dort, seinen Willen mit Gewalt zu brechen. Nach wochenlangen schweren Folterungen, bei denen er sich bis zuletzt standhaft weigerte, das Horst-Wessel-Lied zu singen, wurde Erich Mühsam am 10. Juni 1934 von Angehörigen der Wachmannschaft brutal ermordet. »Der Jude Erich Mühsam hat sich in der Schutzhaft erhängt«, meldete die Nazipresse.
Seine Witwe Creszentia, von ihm gut bayrisch »Zenzl« genannt, flüchtete 1934 in die Sowjetunion. Mit im Gepäck hatte sie den literarischen Nachlass ihres Mannes, den sie dem Maxim-Gorki-Institut für internationale Literatur übergab. Mühsam hatte vor seinem Tod Zenzl noch davor gewarnt, in Stalins Reich zu emigrieren. Zu Recht. Wenige Monate nach ihrer Ankunft in Moskau wurde Zenzl Mühsam von der Geheimpolizei verhaftet. Dank internationaler Proteste kam sie sechs Monate später wieder frei, nur um 1938 erneut festgenommen zu werden. 18 Jahre verbrachte Zenzl Mühsam im Gulag. 1955 freigelassen, ging sie in die DDR, wo sie vergeblich versuchte, das Werk ihres Mannes in Gänze zu veröffentlichen. Der SED waren die Texte des Anarchisten Mühsam genauso suspekt wie vor ihr schon allen anderen Regierenden in Berlin, gleich welcher politischen Couleur. Im März 1962 starb Zenzl Mühsam, Witwe eines Antifaschisten und Naziopfers, dessen Anarchismus die DDR totschwieg. Denn auch sie konnte mit seinem Vermächtnis nichts anfangen: »Ich möcht’ die Menschen lehren,/wie man das Leben lebt,/kann selbst mich nicht erwehren/des Leids, das an mir klebt.« Wolf Scheller
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