von Sabine Brandes
Das Mädchen verließ das Haus seiner El-
tern um Mitternacht. Über das, was dann geschah, ist wenig bekannt. Klar ist nur, dass es am frühen nächsten Morgen ohne Bewusstsein und mit Alkohol voll gepumpt in die Notaufnahme des Krankenhauses von Hadera gebracht wurde, nachdem es sich mit zwei 13-jährigen Jungs betrunken hatte. Der Promillegehalt im Blut der Schülerin war zehnmal so hoch wie der, der in Israel zu einem Fahrverbot führt (0,5 Promille). Sie ist zwölf Jahre alt.
Entsetzt wartete der Vater im Krankenhaus und betete, seine Tochter möge aus dem Koma erwachen. Sie sei ein normales Mädchen, talentiert, klug und gut in der Schule. Schuld an dem Geschehen sei einzig und allein der Streik der Lehrer. Die Kinder seien gelangweilt, suchten irgendetwas zu tun, und dies führe zum Trinken, ließ er wissen. Nicht bedenklich indes scheint er zu finden, wie sein Kind mitten in der Nacht allein ausgehen konnte und bis zum nächsten Morgen niemandem auffiel, dass es nicht da war. Getrunken wurde übrigens im Zimmer eines der Jungen – während seine Eltern im Haus waren.
Lange war Alkoholmissbrauch kein Thema im Land des Schabbatweins. Die Zahlen der Alkoholiker waren so verschwindend gering, dass es kein wirkliches Problem gab. Doch die Siebziger und Achtziger, in denen zum Kiddusch am Gläschen Manischewitz-Wein genippt und sich ausschließlich zu Purim richtig einer hinter die Binde gegossen wurde, sind lang vorbei. Das Heute sieht anders aus: Der Teufel aus der Flasche hat längst Einzug in den Alltag gehalten. Vor allem Jugendliche greifen häufiger und in extremer Form zu Alkohol. Mit Folgen, die sich langsam aber stetig in die Ge-
sellschaft fressen wie ein Krebsgeschwür.
In der Tat streiken seit drei Wochen die Oberschullehrer. Zu geringe Gehälter, zu große Klassen, zu schlecht ausgestattete Schulen, die Liste der Klagen ist lang. Auch Hillel Pomer, Oberschullehrer aus Pardes Hanna, weigert sich zu unterrichten. Das dies jedoch der Grund für verstärkten Alkoholmissbrauch unter Kindern und Jugendlichen sein soll, kommentiert er nur mit einem Kopfschütteln: »Vielleicht ist es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, doch die Verantwortung liegt mit Sicherheit nicht bei den Lehrern, sondern im Elternhaus.« In seinen zehn Jahren an verschiedenen Schulen des Landes hat er festgestellt, dass immer mehr und immer jüngere Kinder regelmäßig trinken – und dass die meisten Eltern ihre Augen davor verschließen. »Es ist bereits ein Problem, und es wird weiter wachsen, wenn sich nichts an dieser Haltung ändert.«
Israelis mögen Kinder, und sie mögen viele. Säkulare Familien mit drei und vier Sprösslingen sind normal. Die Regel ist aber auch, dass fast alle Väter und Mütter ganztags arbeiten, während ihr Nachwuchs in Kindergarten- oder Nachmittagsbetreuung ist. Die soziale Verantwortung wird auf die Lehrer oder Betreuer übertragen. »Doch das können und wollen wir nicht leisten«, macht Pomer klar.
Schaut man sich mit wachem Auge auf den Straßen um, zeigt sich ein erschreckendes Bild. Und das nicht nur in sozial schwachen Gegenden mit hoher Einwanderer- und Arbeitslosenquote wie etwa Ramla oder Lod. Auch in Vorzeigestädtchen wie Ramat Hascharon und Herzlija türmen sich die leeren Bier- und Alkopopdosen an den Straßenrändern, sitzen Teenager gelangweilt mitten in der Nacht auf Parkbänken und umarmen eine leere Flasche.
Elischa ist 16 Jahre alt und geht auf die Oberschule einer Kleinstadt nicht weit von Tel Aviv. Wenn er denn geht. Seine Mutter arbeitet Vollzeit, zum Vater hat er keinen Kontakt. Er trinkt, seit er 13 ist. »Am An-
fang war es nur ab und zu, weiß nicht, wie oft, weil es halt alle gemacht haben«, er-
innert er sich vage. Irgendwann sei es mehr geworden. Wie oft er Alkohol trinkt? »Einmal in der Woche mindestens, aber in den Ferien oder wie jetzt, während des Streiks, locker bis zu vier Mal.« Den Alkohol besorge immer jemand anders aus der Clique. Und wenn ein Kioskbesitzer nicht an die Minderjährigen verkaufen will, schicken sie halt einen älteren Bruder. »Das klappt«, sagt Elischa und lacht. Ob seine Mutter eine Ahnung hat? »Überhaupt nicht«, will er wissen machen, erzählt aber, dass er manchmal so betrunken ist, dass er nur noch ins Bett kriechen kann. Drei Jahre stetiger Alkoholmissbrauch im Leben eines 16-jährigen Jungen.
Spätestens Anfang der neunziger Jahre, während der Hochzeit der Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion, kam der harte Alkohol ins Land. Plötzlich sah man Männer auf der Straße oder am Strand sitzen, die Flasche Wodka offen neben sich. Die Regale der Kioske und Supermärkte füllten sich mit Hochprozentigem. Heute sind es vor allem ihre Kinder, manche kaum älter als elf, zwölf Jahre, die regelmäßig trinken. Eine Studie der Anti-Drogen-Stiftung (IADAF) zeigt auf, dass fast 90 Prozent der Jugendlichen im Alter von zwölf bis 18 zugeben, innerhalb des letzten Jahres Alkohol getrunken zu haben, bei den im Land Geborenen derselben Altersgruppe sind es 49 Prozent. Ein Drittel der Einwandererkinder gab an, mindestens vier Mal richtig betrunken gewesen zu sein, 36 Prozent nahmen Drogen.
Chaim Messing, Direktor von IADAF, erläuterte einige der Risikofaktoren für Al-
kohol- und Drogenmissbrauch: Schulabbruch, das Aufwachsen mit nur einem El-
ternteil, finanzielle Nöte sowie die fehlende Aufklärung über die Gefahren. Die Studie untersuchte zudem den Zusammenhang zwischen Alkohol, Drogen und Gewalt. »Und sie zeigt, dass diese Faktoren der Grund für Gewalt in unserer Gesellschaft sind«, so Messing. In Israel aber werde das immer noch zuwenig gesehen, die Menschen kümmerten sich mehr um Folgen als um die Ursachen.
Yael Geram von der Polizei in Herzlija weiß, wie ernst das Problem bereits ist: Erst vor einer Woche starb hier ein 17-Jähriger nach einer Messerstecherei unter Teenagern. Alle Beteiligten waren betrunken. Die meisten Vorfälle ereignen sich in der Nähe von Diskotheken. Weil die Getränke in den Clubs selbst aber zu teuer sind, kaufen sich die Jugendlichen an Kiosken billigen Fusel, um schneller betrunken zu werden. Beson-
ders gern genommen wird Wodka, der schon ab zehn Schekel (1,80 Euro) zu haben ist. »Wir können auf dem Sofa sitzen und ignorieren, was auf der Straße geschieht, doch wenn es unsere eigenen Kinder sind, die volltrunken nach Hause kommen oder sogar verletzt werden, sehen wir plötzlich, was da vor sich geht«, sagt Geram. »Doch dann ist es oft zu spät.«
Das zwölfjährige Mädchen aus Hadera hatte Glück: Nach 24 Stunden wachte es auf und wird das Geschehene höchstwahrscheinlich ohne schwerwiegende körperliche Schäden überstehen. Welche Folgen diese Nacht für sein weiteres Leben haben wird, mag aber niemand vorhersehen.