Geschäftsjahr

Termin beim Chef

von Rabbiner
Yerachmiel Milstein

Warum fällt Rosch Haschana nicht in die Zeit nach Jom Kippur? Wäre es nicht sinnvoller, an Jom Kippur würden uns unsere Sünden vergeben und erst danach träten wir am Tag des Gerichts vor das himmlische Tribunal – wohlgemut und frohen Herzens?
Das folgende Beispiel aus der Geschäftswelt soll uns die Sache begreiflicher machen: Stellen Sie sich vor, Sie erhalten Ihr Hochschuldiplom in Betriebswirtschaft, und noch am gleichen Tag ruft Sie ein renommierter Headhunter an und fragt, ob Sie Interesse daran hätten, Leiter der Verkaufsabteilung einer neugegründeten Firma zu werden, und nennt ein irrsinnig hohes Gehalt. Sie lassen es sich volle acht Sekunden durch den Kopf gehen und antworten dann: »Ja, sicher.«
Sechs Monate danach haben Sie alle Hände voll zu tun, die Abteilung mit sechzig Beschäftigten zu managen, und das Geschäft boomt. Eines Tages erhalten Sie einen Telefonanruf von einem der hohen Tiere im Betrieb. Bei der Gründung der Firma sei ein kleines Versehen unterlaufen – offenbar habe sich niemand zuständig gefühlt, eine Buchhaltung einzurichten. Keiner weiß, ob die Firma nun Ge-
winn macht oder Geld verliert. Der Anruf ist auch als Warnung zu verstehen: Nach einer detaillierten Prüfung der Bilanzen jeder Abteilung soll wahrscheinlich Personal abgebaut werden.
Eine Woche später ruft »Bob aus der Buchhaltung« an und erklärt, daß jeder Abteilungsleiter gebeten wird, sich auf eine Wirtschaftsprüfung vorzubereiten, durch die herausgefunden werden soll, ob die Abteilung rentabel arbeitet oder nicht. Er bittet Sie, alle verfügbaren Unterlagen zusammenzutragen und sie in dreißig Tagen den Buchprüfern vorzulegen.
Sie lieben ihren Job und haben die feste Absicht, bei der Firma zu bleiben. Sie hängen sich rein, um durch eine abteilungsinterne Prüfung der Bücher zu beweisen, daß ihre Abteilung wirtschaftlich arbeitet. Nach zwei Wochen beschleicht Sie ein nagender Verdacht. Die Zahlen stimmen tatsächlich nicht. Offensichtlich kosten Sie die Firma mehr Geld, als Sie hereinbringen. Sie sind eine Belastung.
Nacht für Nacht liegen Sie wach und versuchen herauszufinden, was Sie falsch machen und wie Sie den Fehler beheben könnten. Vielleicht wäre es am besten, alles zuzugeben. Dann könnten Sie eine bestechende Lösung des Problems vorschlagen. Sie würden eine zweite Chance be-
kommen und von nun an alles richtig machen. Immerhin wissen Sie, anders als der Neuling, den sie wahrscheinlich einstellen werden, wo das Leck ist und wie man es stopfen kann. Sie nehmen einige Veränderungen vor, prüfen alle Vorschläge mit großem Interesse, mit Gespür und Scharfsinn. Und mit jeder Neuerung, die Sie einführen, spüren Sie, daß sich die Dinge zum Besseren wenden.
Am Tag der Revision sind Sie extrem nervös, aber überzeugt, daß aufgrund der Verbesserungen, die Sie durchgesetzt haben, Hoffnung besteht. Bob schüttelt Ihnen höflich die Hand und deutet dann zur entfernten Ecke des Raums, wo der Hauptgeschäftsführer höchstpersönlich sitzt, vertieft in Ihre Unterlagen. An einer Stelle runzelt er die Stirn, an einer anderen weiten sich seine Augen.
Sie warten draußen vor der Tür, und endlich, nachdem Sie viele Stunden mit Fingernägelkauen verbracht haben, kommt Bob heraus und sagt: »Man kann sehen, daß Sie es versucht haben, aber die Daten reichen einfach nicht aus, um ein eindeutiges Bild zu bekommen. Wissen Sie was? Wir geben Ihnen noch einmal zehn Tage, um Ihre Veränderungen umzusetzen; danach besprechen Sie die Sache mit dem Hauptgeschäftsführer selbst.”
Die folgenden zehn Tage sind ein einziger geschäftiger Wirbel. Jeder denkbare Schritt zur Reform wird mit größter Sorgfalt begutachtet und erwogen. Der große Tag kommt. Sie machen sich – erschöpft, nervös, doch auch ein wenig hoffnungsvoll – auf den Weg zu Ihrem Termin mit dem Hauptgeschäftsführer und können dabei das Gewicht der Berge neuer Tabellen und Kalkulationen kaum schleppen. Sie stürzen sich in Ihre Präsentation, verteidigen Ihre Leistungen, gestehen Ihre Fehler ein und unterbreiten eine perfekte Strategie, wie in Zukunft jegliche Unrentabilität verhindert werden kann.
Der Hauptgeschäftsführer blättert bedächtig in Ihren Unterlagen, und nach einer Ewigkeit blickt er auf, sieht Sie an und sagt: »Es tut mir leid. Aber es reicht einfach nicht aus.«
Sie haben alles probiert, Sie sind am Ende Ihrer Kräfte und bereit, den Bettel hinzuschmeißen, als Ihnen plötzlich klar wird, daß der Hauptgeschäftsführer Ihr Vater ist! Sie sehen ihm in die Augen und rufen unter hemmungslosem Schluchzen: »Ich weiß, daß ich nicht so besonders gut abschneide. Aber Papa, ich bin es doch! Könntest du ein bißchen weniger streng sein und mir eine Chance geben, wenigstens dies eine Mal?«
Das Universum ist Gottes multinationales Unternehmen, und dessen wichtigste Produktgruppe sind gute Taten. Gott erschuf eine glänzend schöne, technisch erstaunlich ausgereifte Welt, die in vieler Hinsicht vollkommen ist, in anderer aber beabsichtigte Fehler aufweist. Vollkommenheit herrscht auf einem Korallenriff, im Nationalpark und beim genialen Design der DNA. Unvollkommenheit herrscht da, wo Kinder hungern und Krankheit großes Leid verursacht.
So wie jeder erfolgreiche, gute Vater nimmt Gott seine Kinder ins Geschäft auf, damit sie Seine Arbeit fortführen. Er gibt ihnen zusätzliches Geld, um den Hungernden zu essen zu geben. Er stellt Mittel zur Verfügung, um die Kranken zu heilen, und Kraft, die Schwachen aufzurichten.
Tatsächlich ist das hebräische Wort für Wohltätigkeit Zedakka, hergeleitet aus dem Wort Gerechtigkeit. Bei der Wohltätigkeit geht es um die Korrektur dort, wo Ungerechtigkeit herrscht und der Reichtum ungleich verteilt ist. Der eine hat nicht genügend Geld, sein Bruder hat ein bißchen was übrig. Die gute Tat korrigiert das Unrecht, und die Gerechtigkeit obsiegt.
Wir von der menschlichen Rasse sind die Angestellten Gottes. Unsere Arbeitsplatzbeschreibung läßt keine Fragen offen. Leisten Sie einen Beitrag zum Endgewinn des Unternehmens, und zwar so, daß es rentabel arbeitet: Auf der spirituellen Habenseite muß mehr verzeichnet sein als auf der Sollseite. Um den Erfolg der Firma langfristig zu sichern, wird ein Buchhaltungssystem eingeführt, das die Leistung jedes Angestellten, gemessen an seinem Beitrag zum Endgewinn der Firma, überprüft.
Rosch Haschana ist der Tag der Revision, an dem jeder Jude vor die himmlischen Buchhalter gerufen wird, die sowohl jeden spirituellen Geschäftsabschluß als auch jede Übertretung abwägen, um zu entscheiden, ob der Vertrag des Angestellten um ein Jahr verlängert wird. Deshalb verbringen Juden traditionellerweise Elul, den Monat vor Rosch Haschana, mit der sorgfältigen Überprüfung jeder einzelnen ihrer Taten, um zu erfahren, wie sie sich unterm Strich auf die spirituelle Rentabilität des Unternehmens, des Universums Gottes, ausgewirkt hat.
Wenn wir Tschuwa, Reue, ausüben, denken wir darüber nach, wo wir Fehler gemacht haben und – genauso wichtig – wie wir den Fehler korrigieren wollen. Am Tag des Urteils betreten wir die Synagoge ein bißchen ängstlich, kleinlaut und nachdenklich, doch wir sind bereit, um die Verlängerung unseres Vertrags zu bitten – um ein weiteres Jahr unseres Lebens –, weil wir das Problem zumindest erkannt und Maßnahmen ergriffen haben, die verhindern sollen, daß es je wieder passiert.
Aber wer kann wirklich sagen, er habe als Gottes Angestellter alles ihm Mögliche getan, um sich an Rosch Haschana eines positiven Ausgangs sicher zu sein? Daher müssen wir uns vor Augen halten, daß unser Schicksal noch in der Schwebe ist. Bis Jom Kippur wird uns eine Verlängerung gewährt, damit wir die moralischen Fragen, die uns beschäftigen, noch einmal untersuchen und unsere guten Vorsätze und Reformideen besser in die Tat umsetzen. An Jom Kippur nimmt uns die Ungewißheit unseres Schicksals so sehr in Anspruch, daß wir ans Essen oder Trinken gar nicht zu denken brauchen. Immer wieder versuchen wir, Rechenschaft abzulegen über unsere Sünden, und beschließen, sie nie wieder zuzulassen, während wir vor dem Hauptgeschäftsführer, dem Allmächtigen Herrn, stehen. Und zu einem späten Zeitpunkt kommen wir zu dem Schluß, daß es trotz unserer ganzen Tschuwa für die Verlängerung unseres Lebensvertrags nicht ganz ausreicht.
Und gerade wenn es so aussieht, als sei alles verloren, blicken wir auf und stellen fest, daß Gott unser eigener Vater im Himmel ist. Und deshalb flehen wir im letzten Gebetsgottesdienst der Hohen Feiertage: »Awinu malkeinu – unser Vater, unser König!« Hey, Papa, ich bin’s. Ich bin dein Sohn. Ich weiß, ich habe es vermasselt, aber bitte, laß es dieses Mal noch hingehen. Welcher Vater kann einer solchen Aufrichtigkeit seitens seines geliebten Kindes widerstehen?
Er also verzeiht uns, stellt uns aber eine neue Aufgabe: »Gut, Du und Ich, wir haben uns wieder versöhnt, warum kommst Du nicht in Mein Haus und versuchst, auch mit deinen Geschwistern auszukommen?«
Der Feiertag Sukkot bedeutet nichts anderes als das Verlassen unserer Behausungen, um in ein Haus einzuziehen, mit Wänden so dick, wie man es sich nur wün-
schen kann. Dessen Dach aber – die Barriere, die uns von Gott trennt – ist absichtlich nur ganz lose gedeckt. Das heißt, es ist das Haus Gottes. An Sukkot werden wir auch aufgefordert, die vier Spezies, von denen jede einen anderen Typus von Jude symbolisiert, zu nehmen und sie an jedem Tag der Hohen Feiertage zusammenhalten. Nachdem unser Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird, lädt Er uns in Sein Haus ein und fordert uns auf, uns mit dem gesamten jüdischen Volk zu vereinen und eine Woche lang einträchtig als eine einzige große Familie zu leben.
Jetzt, da wir als eine Familie vereinigt sind, möchte Gott nicht, daß wir nach sieben Tagen weggehen, und Er bittet uns sehnsüchtig, noch einen Tag zu bleiben. Diesen Tag nennen wir Schmini Atzeret, »den achten, verlängerten Tag« der Feiertage.
Und der letzte Tag der Hohen Feiertage heißt Simchat Tora, »die Glückseligkeit der Tora«. Wir tanzen ekstatisch und halten die heiligen Schriftrollen nah an unserem Körper, während wir um die Bima herumgehen.
Laut den jüdischen Mystikern ist es nicht so sehr, daß wir die Schönheit unserer jüdischen Tora feiern, sondern, daß die Tora selbst und – in der Erweiterung – Gott selbst, uns seine geliebten Kinder, feiert, nachdem wir unser Verhältnis zu unserem Vater und zu unseren Brüdern und Schwestern wiederhergestellt haben.
Was für ein Monat! Was für eine Art und Weise, das Jahr zu beginnen!

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Aish HaTorah, der jüdischen Website aus Jerusalem/Israel
www.aish.com

Kultur

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