Das Monument steht auf einer Brücke im früheren jüdischen Viertel. »Der, der zu Amsterdam oft Jerusalem sagte und nach Jerusalem getrieben kam, sagt mit träumerischer Stimme: ›Amsterdam Amsterdam‹.« So lautet die Inschrift. Die Worte stammen von Jacob Israël De Haan, niederländisch-jüdischer Journalist und Schriftsteller, der 1919 als Zionist nach Israel ging und dort sein Heimweh nach Amsterdam entdeckte.
Galit Shabi, 36, geboren und aufgewachsen in Jerusalem, kennt das Denkmal gut. Als sie knapp 80 Jahre später den umgekehrten Weg ging, bildete es ein Dreieck mit zweien ihrer Fixpunkte in Amsterdam. Nur ein paar Meter weiter liegt eine der Hochschulen, an denen sie Tanz studierte. Und auf der anderen Straßenseite das Café, in dem sie nebenher kellnerte. Beinahe täglich kam sie daran vorbei. Bedeutet hat es ihr trotzdem nie sonderlich viel. Galit schüttelt die schwarzen Locken und sagt offen: »Hätte es in Tel Aviv eine entsprechende Tanzausbildung gegeben, wäre ich nie nach Amsterdam gekommen.«
Seit dem 16. Jahrhundert galt die Grachtenstadt als Zufluchtsort für Juden. Erst kamen Sefarden, dann Aschkenasim, zeitweise wies Amsterdam die größte jüdische Be- völkerung Westeuropas auf. Ihre Spuren ziehen sich noch heute durch die Stadt. Doch Israelis, die sich an der Amstel niederlassen – man schätzt ihre Zahl auf 8.000 bis 10.000 –, haben dafür meist andere Gründe: die Liebe, das Studium oder den Zufall.
kosmopolitisch Galit, die Tänzerin, wollte eigentlich nur mal schauen, wie es ihr gefällt. Aus dem geplanten einen wurden elf Jahre. Sie mag an Amsterdam die Offenheit der Menschen, das Kosmopolitische, das ihr in Jerusalem fehlte, die Vielfalt mit Bewohnern aus 170 Ländern. Das jüdische Erbe fiel ihr eher zufällig auf: die Israelflaggen bei einem Fußballspiel von Ajax, hebräische Schriftzeichen und Davidsterne an Häuserwänden im Viertel Oost. Auch dort, wo heute eine große Ausfallstraße in Richtung Autobahn führt, lebten einst viele Juden. »Da dachte ich, dass ich nicht zufällig hier gelandet bin.« Eine Sache, die ihr gefällt, sind die vielen aus dem Jiddischen und Hebräischen entlehnten Wörter im Slang der Stadt. Längst nicht alle sind Juden, die ihre Stadt liebevoll Mokum nennen. Und Massel wünschen sich echte Amsterdamer noch heute zum Abschied.
»Ich hatte selbst auch Massel«, sagt Galit, die inzwischen mit ihrer Familie vor den Toren der Stadt wohnt: nämlich, dass sie, die in Jerusalem als Industriedesignerin arbeitete, hier noch ihren Traum von der Bühne wahr machen konnte. Und dass sie den Mann traf, der das Eis brach. »Zuerst dachte ich, die Männer hier sehen mich gar nicht. Aus Israel war ich gewohnt, dass konstant geflirtet wird. Aber hier lädt dich ein Mann auf einen Drink ein und fragt nicht mal nach deiner Telefonnummer.« Diese Phase liegt längst hinter Galit. Sie hat sich eingelebt, und muss lachen, als sie von dem Caravan erzählt, den sie, ihr Mann und die zwei Kinder hinter den Dünen auf einem Campingplatz haben. »Ich bin ganz schön holländisch geworden.«
offenheit Das würde man Ada Kuyer nicht unbedingt abnehmen. Um sie herum wird telefoniert, fliegen hebräische, englische und niederländische Wörter durch das gemütliche, wuselige Büro. An der Wand hängt eine Landkarte von Israel, fünf Mitarbeiter nehmen beständig Reservierungen entgegen. »Jeder kennt Ada«, heißt es unter Israelis in Amsterdam. Die 56-Jährige mit den rot gefärbten Haaren leitet die örtliche Filiale des israelischen Reiseunternehmens ISSTA. Seit zehn Jahren ist sie in der Stadt, zum zweiten Mal nach einer kurzen Phase in den 80ern. Solange sie arbeitet, will sie bleiben, schließlich gefällt es Ada hier. Das Bunte, die Offenheit für verschiedene Kulturen: Amsterdam ist die einzige Stadt in diesem Land, wo sie leben möchte – und doch will Ada eines Tages zurück nach Israel. »Zu meinen Wurzeln.«
Adas Mutter war Berlinerin, verlor ihre Familie in Auschwitz und wanderte nach Palästina aus. Der Vater, ein russischer Jude, der im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee kämpfte, ging 1948 nach Israel. In einem Kibbuz im Negev wurde Ada geboren, wuchs auf und traf ihren Mann. Dieser war als junger Zionist nach Israel gekommen – aus Amsterdam. »Von daher habe ich natürlich eine besondere Beziehung hierhin. Es ist die Heimatstadt meines Mannes«, sagt Ada. Zum alten Mokum fehlt aber auch ihr der Bezug. Und dass ISSTA hier eine Niederlassung eröffnete, hatte eher strategische Gründe. Schließlich ist der nahe Flughafen Schiphol ein Drehkreuz im internationalen Luftverkehr.
Adas Bild des multikulturellen, offenen Amsterdam hat zuletzt hässliche Schrammen bekommen. Früher, erzählt sie, habe sie nie Angst gehabt nachts auf der Straße. Heute gebe es viele Probleme mit jungen Marokkanern, die Gewalt nehme zu. Wie sich dieses Klima für Juden auswirkt, erfuhr die Belegschaft von ISSTA zu Jahresbeginn am eigenen Leib. »Während des Gasakriegs wurden unsere Fenster mit antiis- raelischen Parolen beschmiert.« Durch die milchigen Sichtschutzscheiben hebt sich das Reisebüro deutlich von den anderen Läden auf der langen Geschäftsstraße ab. Die neue Realität macht nicht vor ein paar Jahrhunderten jüdischer Geschichte halt.
Schlechte Erfahrungen hat in dieser Zeit auch Sami Bar-On gemacht. Ständig spuckten Passanten auf sein Fenster, und irgendwann kamen zwei junge Marokkaner und rissen die Fahne ab. »Als Einziger hier habe ich eine Israelflagge an meinem Haus«, sagt Bar-On, der den Jugendlichen nachsetzte und sich im Handgemenge mit ihnen verletzte. Der einzige Jude ist er hier draußen ganz und gar nicht. Im südlichen Vorort Buitenveldert konzentriert sich ebenso wie im benachbarten Amstelveen das heutige jüdische Leben der Hauptstadt. Sami, der aus Beer Schewa stammt und die lässige Ausstrahlung eines Bonvivant hat, betreibt in der Gegend zwei israelische Restaurants und den koscheren Minisupermarkt Ha Galavit. »Da drüben«, weist er aus dem Fenster, »liegt die orthodoxe Schule, und die liberale ist nur eine Ecke weiter.« Es gebe noch mehr israelische Restaurants hier, und die Pizzeria sei ebenfalls koscher.
liebeserklärung Auch Sami Bar-Ons Sicht auf Amsterdam ist mehr durch Israel geprägt als durch die Bedeutung der Stadt für europäische Juden. Amsterdam betrat er erstmals, als er seinen Armeedienst beendet hatte. Zuerst zog er nach Eilat, und dann, wie so viele junge Israelis, hinaus in die Welt. »Europa war damals noch weit weg für uns«, erinnert er sich. In Amsterdam traf er vor 30 Jahren auf einen Landsmann, der ihm einen Job in einem Schawarma-Imbiss besorgte. Nebenher wurde Sami so zum Geburtshelfer eines längst im ganzen Land populären Fast-Food-Gerichts. »Heute verkaufen meist Türken und Marokkaner Schawarma. Aber angefangen haben das hier in der Stadt Israelis.« Zweimal ging er zurück nach Israel, zweimal kam er zurück. Zwischenzeitlich lebte Sami in der nahen Kleinstadt Alkmaar, mittlerweile ist für ihn klar: »In Europa ist es Amsterdam oder nichts.« Man könne hier gut wohnen, das Leben sei schön und nichts belaste ihn. Eine pragmatische Liebeserklärung.
Enthusiastisch reagieren seine israelischen Freunde, wenn sie ihn in Amsterdam besuchen. Dazu trägt sicherlich auch die liberale Drogenpolitik bei. »Sie sind baff, dass du hier auf der Straße einen Joint rauchen kannst.« Draußen fährt ein orthodoxer Vater seine Tochter auf dem Fahrrad von der Schule nach Hause. Im Ha Galavit klingt hebräischer Pop, es duftet nach frischer Challa, die Nachbarschaft kommt auf die letzten Schabbat-Einkäufe hinein. »95 Prozent meiner Kunden sind Juden«, sagt Sami. Beruflich ist er also nah dran am alteingesessenen Amsterdamer Judentum. Doch wie sieht es in der nächsten Generation aus? An der Kasse steht David, 22, einer von Samis drei Söhnen. Ihm gefalle es hier, sagt er. Aber eigentlich könne er überall leben. »Tel Aviv, das wäre mal was. Neulich war ich dort und habe mich in die Stadt verliebt.«