von Hannah Miska
Man braucht Zeit für diesen Sport. Ein einziges Spiel dauert mindestens sechs Stunden und wird durch mehrere Mahlzeiten unterbrochen: Es gibt eine Mittagspause, eine nachmittägliche Teestunde, und zwischendurch werden Snacks und Erfrischungsgetränke gereicht. In »schwereren Fällen« erstreckt sich ein Spiel über fünf Tage. Richtig: Die Rede ist von Kricket. Dieser skurrilen Erfindung der Engländer, bei der elf Spieler der einen Mannschaft und zwei Schlagmänner der anderen Mannschaft einen kleinen roten Ball werfen, schlagen, versuchen zu fangen und dabei zwischen Holzstäben hin-und herrennen. Die Spieler sind von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet. Länger, viel länger als das Spiel dauert, braucht man, um es auch nur ansatzweise zu verstehen.
Kricket ist neben »Aussie Rules«, dem australischen Fußball, der eine aggressive Mischung aus Fußball und Rugby darstellt, für die Aussies die wichtigste Sache der Welt. Egal, ob der Premierminister beim G20-Treffen in Washington über die globale Finanzkrise debattiert, Queensland von schweren Überschwemmungen heimgesucht wird, oder der Papst gerade eine unselige Entscheidung trifft.
Auch Australiens Juden spielen Kricket, ganz gleich, ob sie aus den Kricket-Nationen wie England, Südafrika oder den West Indies stammen oder aus Osteuropa eingewandert sind. Unter dem Dach des Makkabi-Weltverbandes gibt es derzeit einen Kricketklub in Perth und einen in Melbourne. Mit fünf Teams und 200 Mitgliedern gehört Melbournes Maccabi AJAX Cricket Club zu den größten Vereinen.
Nach der Gründung im Jahr 1929 wurde zunächst in der Halle gespielt, später verlegte man das Spiel nach draußen. Dort spielte man lange auf einer künstlichen »cricket-pitch«, bis man in den 60er-Jahren schließlich beschloss, auf Naturrasen zu spielen. »Die Pitch zu präparieren und in Ordnung zu halten, ist zwar ziemlich kostspielig«, erklärt Jeff Israel, Präsident des Klubs, »der Wechsel war aber nötig, um vor allem die guten Spieler zu halten. Das Spielen auf Rasen ist interessanter und erfordert weitaus mehr Können, weil der Ball völlig unterschiedlich und oft unerwartet springt.«
Der Klub, der ausschließlich jüdische Spieler aufnimmt, hat seinen eigenen Kricketplatz in einem schönen Park in der Stadt, den er sich mit dem Maccabi-Fußballteam teilt. Die Teams spielen in der lokalen Liga und haben in der Vergangenheit etliche Pokale Liga gewonnen. »Un-
sere größten Sorgen sind zwar immer die Finanzen«, sagt Geoff, »aber manchmal können wir uns sogar einen Trainer leisten.« Der Klub hat Talente. Brad Majtlis zum Beispiel, der ausgewählt wurde, um an der diesjährigen Makkabiade in Israel teilzunehmen. Australien wird dort ein Kricketteam stellen – die meisten Spieler stellt der Maccabi AJAX Club Melbourne. Der 20-jährige Majtlis ist ehrgeizig; er möchte noch etwa zwei Jahre im Maccabi Club bleiben, dann aber in einen Klub wechseln, der in der Distriktliga spielt. Dort muss man spielen, um für die Länderliga entdeckt zu werden, und wenn man dann wirklich gut ist, schließlich in das Australien-Team zu gelangen. Das ist der Traum jedes Spielers, denn die Aussies sind seit einigen Jahren an der Weltspitze im Kricket. Warum Brad überhaupt bei Maccabi spielt? Seine Großeltern stammen aus Polen und sind nach dem Krieg nach Australien ausgewandert. Er sagt, dass Maccabi AJAX benachteiligt ist, weil er seine Spieler nur aus dem begrenzten Pool der jüdischen Kommune rekrutieren kann. Deshalb spürt er eine Verantwortung, für den Club zu spielen.
Und der Club will der wachsenden Anzahl der religiösen Spieler, deren Familienangehörigen und überhaupt der jüdischen Gemeinde Tribut zollen. So hat man neben einem Sonntagsteam für religiöse Spieler auch viele Feste im Klub. Wie zum Beispiel den »Tag der Ehemaligen«, einen Familientag mit drei verkürzten Spielen am Vor- und Nachmittag. Dann ist das Klubhaus voll von lärmenden Männern, Frauen und Kindern, es gibt koschere Falafel und nicht koscheres Hühnchen. Auf dem Programm stehen dann: ein Maccabi-AJAX-Cricket-Club-Team gegen ein Maccabi-AJAX-Aussie-Rules-Team, die Ehemaligen gegen die Besten unter 23, und das Sonntags- gegen ein Samstagsteam.
Das Gras ist gelb und verdörrt, es hat seit Wochen nicht geregnet. Aber es sind nur 25 Grad heute. Das ist Glück im Unglück. Am Tag zuvor zeigte das Thermometer in Melbourne 46.2 Grad Celsius – eine Rekordtemperatur, die nie zuvor in Victoria gemessen wurde. Das vorgesehene Spiel der »Ersten Elf« wurde abgesetzt – dank einer neuen Regelung, nach der bei über 38 Grad Celsius nicht mehr gespielt wird. Jamie Hyams, der ehemalige Präsident, lacht und sagt, er hätte in der Vergangenheit durchaus schon bei 43 Grad gespielt. Man würde zwar schneller müde, aber wenn der Wind ein bisschen weht und aus dem Süden, also aus der Antarktis kommt anstatt aus der Wüste im Norden, dann ginge es schon. Es geht nichts über Kricket – selbst in der Sauna des australischen Sommers.