Gilad Schalit

Tausend Tage

Es ist wie in einem dieser Thriller, in denen jede Sekunde zählt. Agenten rasen in Nacht- und Nebelaktionen zu geheimen Treffen mit dem Feind, die Regierungsvertreter reiben sich nervös die Hände, Angehörige blicken verzweifelt, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Währenddessen tickt die Uhr unaufhörlich. Nur dass dies kein Bestseller, sondern die Realität ist. Es geht um das Leben eines jungen Mannes – Gilad Schalit.

Seit 1.000 Tagen wird der israelische Soldat in irgendeinem Versteck im Gasastreifen festgehalten, nach Hamas-Angaben hat er den jüngsten Krieg überlebt und ist, den Umständen entsprechend, bei guter Gesundheit. Das letzte Lebenszeichen jedoch ist ein Brief von ihm aus dem Sommer 2008. In einem Wettlauf gegen die Zeit verstärkte die Regierung unter Ehud Olmert die Anstrengungen, ihn auszutauschen. Zuletzt kehrten die Unterhändler ohne Ergebnis aus Kairo zurück. Das Jerusalemer Kabinett beriet in einer Sondersitzung am Dienstagnachmittag die Lage. Ohne konkretes Ergebnis. Die Verhandlungen sollen fortgesetzt werden – vorerst. Die neue rechtsgerichtete Regierung des designierten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu steht schon in den Startlöchern und wird sich kaum auf einen derartigen Handel mit der Hamas einlassen. Das weiß Olmert, das weiß die Hamas.

Und doch sind die Verhandlungen immer wieder festgefahren. Unermüdlich pendelt der Vermittler der israelischen Regierung, Ofer Dekel, gemeinsam mit Juval Diskin, dem Chef des Inlandsgeheimdienstes, zwischen Kairo und Jerusalem, um ein Abkommen unter Dach und Fach zu bringen. Wie so oft scheint es an Feinheiten zu scheitern. Der enormen Zahl von 450 palästinensischen Gefangenen im Austausch für Schalit hat Israel bereits zugestimmt, viele davon »mit Blut an den Händen«. Doch Olmert besteht darauf, dass die notorischsten Mörder und versiertesten Bombenbauer statt in die Westbank zurück zu dürfen, in den Gasastreifen oder das arabische Ausland deportiert werden. Ein Punkt, auf den sich Hamas nur teilweise einlassen will.

Unterdessen sitzen Aviva, Noam und Joel in einem Zelt vor dem Wohnsitz des Premierministers in Jerusalem. Es sind Mutter, Vater und Bruder des Entführten, die nach fast drei Jahren ihre stille Zurückhaltung aufgegeben haben und nun für jedermann hörbar verkünden: »Holt endlich unseren Jungen zurück.« Lange hatten sie nichts getan, was die Verhandlungen um ihr Kind hätte gefährden können. Doch nun haben sie das Gefühl, etwas tun zu müssen. »Für uns sind diese Tage unerträglich, doch für Gilad noch viel mehr«, sagt Aviva Schalit, eine sanfte Frau, die sich im gleißenden Kameralicht sichtlich unwohl fühlt. Wie die ganze Familie, die aus einem kleinen Ort in Galiläa stammt, möchte sie nichts mehr, als ihren Sohn in die Arme schließen und endlich wieder zum normalen, ruhigen Leben zurückkehren. Die Tageszeitung Haaretz nannte die Schalits vor Kurzem »Olmerts höflichste Kritiker«.

Überall hängt Gilads Konterfei, das Bild eines jungen Mannes, der schüchtern in die Kamera lächelt, daneben unzählige Zettel mit lieben Gedanken und immer wieder dem Wunsch: »Lasst ihn doch endlich frei!« Die Stimmung im Zelt ist alles andere als enthusiastisch, sie entspricht dem Wetter der Hauptstadt, grau und niedergeschlagen. »Wäre ich optimistisch, würde ich zu Hause auf ihn warten und nicht in diesem Zelt sitzen«, macht Noam Schalit deutlich. Die Schmerzen des Vaters, dessen Sohnes Schicksal in den Händen von Politikern und Terroristen liegt, sind förmlich spürbar, wenn er leise spricht oder wort- und ziellos auf- und abgeht.

Der Nieselregen hält die Israelis nicht davon ab, der Familie zu demonstrieren, dass sie auf ihrer Seite sind. Hunderte, an manchen Tagen sind es sogar Tausende, kommen, um ihre moralische Unterstützung zu zeigen. Sie bringen Kekse mit, warmen Tee, viele tragen selbstgemalte Plakate und Handzettel, organisieren spontane Demonstrationen für Gilads Freilassung. Auch Knessetabgeordnete, darunter Schaul Mofas und der Minister für Pensionärsangelegenheiten, Rafi Eitan, schauen vorbei und verkünden, sollte es zu einer Abstimmung über einen Handel im Kabinett kommen, sie würden ja sagen. Es wärmt die Herzen der Schalits, fröhlich macht es sie nicht. »Das kann nur die Rückkehr unseres Sohnes«, sagen sie übereinstimmend. Das Zelt werden sie nur dann verlassen, wenn Gilad frei ist oder Olmert nicht mehr im Amt. Die Mehrheit der Israelis wünscht, dass es aus dem ersten Grund sein wird.

Es gibt auch Gegner eines Handels, vor allem Familien, die Angehörige durch Terroranschläge verloren haben. Eine kleine Gruppe hat sich stillschweigend in einem Zelt neben den Schalits niedergelassen, um ihrer Sorge Ausdruck zu verleihen, was geschehen könnte, wenn gefährliche Terroristen wieder in die Freiheit entlassen werden.

Wie die Atmosphäre im Protestzelt, so schwanken die Gefühle innerhalb der Bevölkerung hin und her. Viele befürworten einen Austausch, auch wenn das heißt, dafür verurteilte Mörder gehen lassen zu müssen. Am Montag waren die meisten voller Zuversicht, als sich Dekel und Diskin erneut auf den Weg nach Kairo machten, um die indirekten Gespräche mit ägyptischer Vermittlung weiterzuführen. Am Tag darauf indes waren die Hoffnungen fast auf dem Nullpunkt angelangt, als eine Erklärung von Olmert die Runde machte, die Hamas hätte ihre Forderungen erhöht. Mit jeder Stunde, die ohne Ergebnis verstreicht, sinken die Chancen auf ein gutes Ende in diesem Drama. Genau so wie auf einem riesigen Plakat bei Tel Aviv steht: »Mit jedem Tag, der vergeht, verschwindet Gilad ein bisschen mehr.«

Eine, die vor dem Zelt steht, ist Einat Hadary. Sie ist extra aus Tel Aviv angereist, um ihre Solidarität zu zeigen. »Es ist höchste Zeit, dass Olmert lautstark aufgefordert wird, etwas zu tun. Die Schalits und ganz Israel haben lange genug stillgehalten.« Keine Frage, Gilad müsse nach Hause geholt werden. Das sei die Verantwortung des Staates, schließlich ist er während Olmerts Regierung entführt worden. »Die Politiker können nicht einfach ihre Schreibtische aufräumen, in den Urlaub fahren und Gilad in Gasa lassen. Er ist doch einer von uns.«

Kultur

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