von Detlef David Kauschke
Herbert Nossen lächelt. Es wirkt fast ein wenig verschmitzt. Die Strapazen der Reise sind dem schlanken, jünger wirkenden 83-Jährigen kaum anzumerken. Immer freundlich, immer gesprächsbereit. Und das trotz des dicht gedrängten Programms, das er nach dem Wintereinbruch an diesem Wochenende mit Schnee und Eisglätte in Berlin absolviert. Zu Hause in Netanja scheint die Sonne bei 26 Grad.
Doch Nossen kennt winterliche Temperaturen: Er ist hier geboren, 1924 in der Elsässer Straße, der heutigen Torstraße in Berlin-Mitte. »Aber meine alte Heimat sieht heute janz anders aus«, berlinert der alte Herr, als ob er die Stadt nie verlassen hätte. Aber 1943 wurde Nossen von den Nazis dazu gezwungen und nach Auschwitz deportiert. Er hat die Hölle überlebt. Und nun, nach 65 Jahren, ist er wieder in Berlin. Sein Sohn Rami begleitet ihn auf dieser Reise in die Vergangenheit. Und viele andere auch. »Ick bin Teil von der Mischlachat«, sagt Nossen stolz. Er steht mit grauem Rollkragenpulli und dunkelgrünem Cordjackett inmitten der vielen Uniformträger.
Die Mischlachat, die Delegation, besteht aus rund 180 Mitgliedern der israelischen Armee. »Zeugen in Uniform« heißt das Programm, in dessen Rahmen seit 2001 zweimal jährlich angehende Offiziere und andere militärische Führungskräfte nach Osteuropa reisen. »Schoa« heißt das Thema. Es ist der Versuch, das Unbegreifliche zu verstehen und es der jüngeren Generation an den Orten des Schreckens begreiflich zu machen. Der Holocaust ist Teil der Identität des jüdischen Staates – und seiner Verteidiger. Wie jedes Mal geht es für mehrere Tage nach Polen. Und erstmals steht davor Berlin auf dem Programm. »Es ist eine historische Reise«, sagt Brigadegeneral Eli Shermeister. »Die meisten von uns sind nach der Schoa geboren, in eine andere Realität hinein.«
Herbert Nossen jedoch kennt die Realität des Holocaust. »Jahrzehntelang wollte mein Vater nicht darüber sprechen. Und er wollte auch nie nach Deutschland reisen«, erzählt Sohn Rami. Deshalb sei er besonders froh, dass sie nun gemeinsam eine Art Kreis schließen könnten. Rami ist Marketingchef eines Elektrounternehmens und war dienstlich schon einmal in Berlin. In Zivil. Jetzt trägt er als Oberstleutnant der Reserve Uniform. Das sei ein ganz anderes Gefühl, sagt Rami, und gibt sich gleich betont militärisch: »Wir leben in einer ungemütlichen Gegend. Israel hat viele Feinde, aber eine starke Armee. Um sich auf Bedrohungen vorzubereiten – wie zum Beispiel aus dem Iran –, ist es entscheidend zu wissen, was damals passiert ist. Für unsere Offiziere ist das sehr wichtig.«
Doron Oizerovich heißt einer von ihnen. Der 34-jährige, hochgewachsene schwarzhaarige Major hat am Brandenburger Tor Fotos gemacht, sich abends mit Bundeswehrsoldaten in der Julius-Leber-Kaserne getroffen, einen Gang durch das Stelenfeld des Holocaustmahnmals unternommen, die Spuren und heutigen Zeugnisse jüdischen Lebens in der Oranienburger Straße besichtigt. Besonders beeindruckt ist er allerdings vom Gedenken auf dem Friedhof Weißensee, wo an die im Ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten erinnert wird. Es ist eine außergewöhnliche Zeremonie unter israelischer und deutscher Flagge, mit dem Luftwaffenmusikkorps 4 und dem Wachbataillon der Bundeswehr. »Gerade wenige Tage nach dem 70. Jahrestag der ›Kristallnacht‹ macht es mich besonders stolz zu wissen, dass ich der Armee des jüdischen Staates angehöre. Es ist ein Staat, von dem alle Juden in der Welt wissen: Ganz egal, was auch geschieht, dort haben wir ein Zuhause.«
Auf dem Friedhof steht auch Holly Schwarz. Ihre Augen haben sich mit Tränen gefüllt. Die 34-Jährige aus Haifa ist Mutter von zwei Kindern und hatte als Oberstleutnant bereits mehrfach Angebote für derartige Reisen. Sie lehnte ab. »Ich dachte, es sei emotional zu belastend.« Doch nun ist Holly Schwarz in Berlin. Und das bewegt die hübsche Frau mit den langen goldbraunen Haaren sehr. Vor allem das Gedenken am Gleis 17, dem Ort, von dem zwischen Oktober 1941 und März 1945 Tausende Berliner Juden ihren Weg in den Tod antreten mussten. »Als ich dort die Hatikwa hörte, musste ich weinen.« Dass sie dies gemeinsam mit Bundeswehrsoldaten erlebt habe, zeuge von der gewachsenen Verbindung beider Länder. »Doch als die deutsche Nationalhymne gespielt wurde und ich salutieren musste, fiel mir das sehr schwer.«
Auch für Major Oded Nahari ist die Ze-
remonie am Gleis 17 einer der schwersten Momente des dreitägigen Berlin-Besuchs. Er begleitet seit mehreren Jahren die »Zeugen in Uniform« und ist bei der Armee für Protokollfragen zuständig. Nun ist er zum ersten Mal in Uniform nach Deutschland gekommen. Sein Vater stammt aus Hessen, die Familie seiner Frau aus Brandenburg. Ihre Großeltern fielen der Schoa zum Opfer. »Wir wissen nicht viel über ihr Schicksal. Wahrscheinlich sind sie von diesem Gleis 17 abtransportiert worden. Hier als israelischer Offizier zu stehen, das ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl.«
Ähnlich empfindet Avichai Rontzki, der Oberrabbiner der israelischen Armee. Seine Familie ist polnischen Ursprungs, die Verwandtschaft seiner Frau stammt aus Deutschland. Der Brigadegeneral mit dem eindrucksvollen weißgrauen Bart trägt Uniform und Kippa. Beim Gedenken im Grunewald spricht er ein paar Psalmenverse. Ein Moment ohnmächtiger Trauer.
Am Freitagabend folgen die Gebete zum Schabbatbeginn in der Synagoge Joachimstaler Straße. »Dort haben wir gesungen und getanzt. Am Israel Chai!« Es seien unglaublich viele Gefühle, die diese Erlebnisse in ihm auslösen, sagt der Oberrabbiner. Er schaut dabei auf die vier jungen Feldjäger, die die Gruppe zu ihrem Schutz in der Stadt begleitet. Auch das ein Anblick, der für viele gewöhnungsbedürftig ist.
Samstagvormittag gibt es drei Stunden zur freien Verfügung. Rabbiner Rontzki geht zum Gebet in die Synagoge. Holly Schwarz kauft rasch drei Paar Schuhe. Und Herbert Nossen geht spazieren. »Vater will einfach nur so durch die Straßen laufen«, sagt sein Sohn. »Er möchte noch einmal fühlen, wie es früher war: Kaffee trinken, ein Stück Kuchen essen.«
Am Nachmittag sind die »Zeugen in Uniform« wieder beisammen und besuchen die Levetzowstraße, wo einst die große Synagoge stand, die ab 1941 von den Nazis als Sammellager missbraucht wurde. Von hier aus wurde Herbert Nossen Ende Februar 1943 nach Auschwitz deportiert.
Dann am Abend vor der Abreise nach Polen eine Einladung ins Gemeindehaus in der Fasanenstraße. Cocktails, Buffet, Musik, Gespräche. Noch einmal offizielle Reden. Brigadegeneral Shermeister würdigt Nossen als »unseren Helden«. Der alte Mann lächelt verlegen. Später wird er sagen, dass sich die Stadt und die Menschen geändert haben. »Ditt is ‹n anderes Deutschland jeworden.«