von Karin Ruf
Traudel Mattes, Gästeführerin in Worms, macht einen Koffer auf. Normalerweise öffnet sie ihn vor Schulklassen, die etwas über jüdisches Leben und religiöse Bräuche erfahren wollen. Challa, das Brot zum Schabbat, ist darin ebenso enthalten wie der Kiddusch-Becher oder die Reise-Tora im Mini-Format. Heute stellt die Gästeführerin ihren »jüdischen Koffer« beim Sommerfest vor.
Mit diesem Fest im Synagogengarten gehen die zweiten jüdischen Kulturtage in der Stadt zu Ende. Die ersten fanden im vergangenen Jahr statt, anläßlich des Raschi-Jahres. Damals waren sich die Veranstalter einig, daß man so etwas ruhig in kleinerer Form wiederholen könnte. Der Verein Warmaisa, vor mehr als einem Jahrzehnt gegründet, hat die Kulturtage mitorganisiert. Für das Abschlußfest ist Vorsitzender Roland Graser zwar nicht verantwortlich, dennoch hat er an dem Nachmittag viel zu tun. Unter anderem richtet er den Tisch für den Verkauf von Kaffee und Kuchen ein.
Schnell erklärt er noch, daß sich der Vereinsname vom historischen Wort für Worms ableitet und widmet sich dann seinen Vorbereitungen. Nachzulesen ist die Erklärung übrigens auch in einem Faltblatt über die erste Synagoge, von deren erstem steinernem Bau aus dem Jahr 1034 nur die Inschrift des Stifters erhalten blieb. »Talmudschule und Synagoge machten Worms im Mittelalter zu einem geistigen und kulturellen Zentrum des abendländischen Judentums«, heißt es in der Broschüre. »Weltweit war Warmaisa ein Symbol jüdischer Gelehrsamkeit und Glaubenskraft. Hier studierte um 1060 auch Rabbiner Salomon Ben Isaak, genannt Raschi, aus Troyes in Frankreich.« Seine Kommentare zur hebräischen Bibel und zum Talmud sind bis heute gültig.
Stella Schindler-Siegreich, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Worms mit derzeit etwa 200 Mitgliedern, ist beim Sommerfest ständig beschäftigt. Zunächst gibt sie am Falafel-Stand das Essen aus. Kurz nach 15 Uhr bittet sie zum Vortrag in die Frauensynagoge. Es geht um den Tora-Wimpel, der aus der Beschneidungswindel für neugeborene Jungen gemacht ist. Der Wimpel ist ein schmales Band von dreieinhalb Metern Länge und reich bestickt. Namen, Geburtsdatum, Segenswünsche gehören dazu. Etwa der, daß der Junge »zu guten Taten« heranwachsen und irgendwann unter dem Traubaldachin stehen möge. Bei seiner Barmizwa wird dann der Wimpel um die Tora gewickelt.
Dies entspricht alter jüdischer Tradition, die in Worms nun wieder aufleben soll. Das Wormser Museum bewahrt den möglicherweise ältesten Wimpel überhaupt auf. Er wird auf das Jahr 1570 datiert. Die Textilkünstlerin Irene Kaufmann aus Dossenheim bei Heidelberg schuf für einen Mann aus der Gemeinde, der vor einigen Monaten Vater wurde, eine Neuauflage eines solchen Torawimpels. Die Windel für Daniel Kirchner entstand bei einem Workshop mit weiblichen Familienangehörigen, die Freude am Sticken haben (vgl. Jüdische Allgemeine vom 16. Februar). Der Sohn ist laut Sternzeichen Waage, und auch dies ist auf der Windel festgehalten.
Zum Thema Beschneidung erläutert Stella Schindler-Siegreich dem Publikum, daß diese am achten Lebenstag stattfindet und die geistige Verbundenheit mit Gott symbolisiert. Wie muß man sich die Zeremonie im 18. Jahrhundert vorstellen, zu Lebzeiten des Malers Moritz Daniel Oppenheim, der in seinen Werken jüdisches Leben festhielt? In der Synagoge waren Männer und Frauen durch eine Wand getrennt. Einige wichtige Frauen, wie die des Rabbiners, des Lehrers oder des Gemeindevorstehers, begleiteten die Frau des Paten. Diese übergab in der Synagoge das Neugeborene an den Vater. Nur die Mutter blieb bei der Zeremonie außen vor. Galt sie doch mindestens bis vier Wochen nach der Geburt als unrein und durfte deshalb die Synagoge nicht betreten.
Das jüdische Leben blieb über die Jahrhunderte nicht unbehelligt. Auch die Wormser Synagoge wurde in der Nazizeit zerstört und im Jahr 1961 neu eingeweiht. Das Interesse am Judentum ist in den vergangenen Jahren mehr und mehr gestiegen, sagt Irene Spille vom Institut für Stadtgeschichte. Interesse weckt auch das Stadtmuseum im Raschi-Haus, in dem das Jüdische Museum untergebracht ist. Kürzlich hat es einen etwa hundert Jahre alten Trinkbecher samt Lederetui, auf dem die Synagoge samt Raschi-Haus im Hintergrund abgebildet ist, erworben. Zu welchem Preis, wollen die Beteiligten allerdings nicht verraten. Hauptsache, er ist nach Worms zurückgekehrt. Immer häufiger werden Schulklassen durch das Gebäude geführt, sagt Spille. Kostenlose Führungen werden überdies an jedem ersten Sonntag im Monat um 10 Uhr angeboten.
Ein Highlight des Sommerfestes ist die Klesmer-Gruppe »Django-Beinhart«. Der Chor der Gemeinde tritt auf, und es gibt Tänze zum Anschauen und Mitmachen. Inzwischen begrüßt Irene Spille eine Delegation der muslimischen Gemeinde zur Führung durch die Synagoge. Sie findet es schön, wie sich die unterschiedlichen Religionen in der Stadt austauschen.
Das Sommerfest jedoch ist eher ein Feiern unter Freunden. Es hätten noch mehr Neugierige für einen »Erstkontakt« kommen können, sagt Schindler-Siegreich. Immerhin ist ein junges Mädchen dabei, das die Synagoge bisher nur von außen kannte und auch nicht wußte, was eine Mikwe ist. Im kalten Wasser unter der Erde ein Ritualbad nehmen, die Vorstellung läßt eine andere Besucherin erschaudern, als sie die Treppen zum Bad hinabsteigt. »Für mich wär’ das nichts gewesen«, sagt sie.