Rabbinerausbildung

Talmud, Tora, Tat

von Olaf Glöckner

Dov Ber Kahn ist nicht der Mann für markige Sprüche. Ruhig, besonnen und beinahe schüchtern erlebt man den 26-jährigen Rabbiner in Bibliothek, Synagoge und Lehrzimmer im Jüdischen Bildungszentrum in der Münsterschen Straße. Nur we-
nig älter als die vor einigen Wochen eingetroffenen zehn Bachurim, fungiert Kahn als erster »Rosch Hajeschiwa«, als Leiter der im November eröffneten Jeschiwa von Chabad Lubawitsch in Berlin. Ein ungewöhnliches Projekt für den Amerikaner und seine Studenten, die aus Australien, den USA, Frankreich sowie Belgien kommen und sich ein Jahr lang gemeinsam an der New Yorker Jeschiwa »Holy Tora« vorbereitet haben.
Die Erwartungen an die neue Lubawitscher Lehreinrichtung in Berlin – vor zwei Jahren öffnete bereits die Ronald Lauder Foundation eine Schule für rabbinische Studien im Bezirk Prenzlauer Berg – sind groß. Rabbiner Yehuda Teichtal hatte schon bei der Einweihung des Bildungszentrums in Wilmersdorf verlauten lassen, dass hier jährlich zehn Studenten ausgebildet werden sollen. Ebenso klar ist aber, dass das jetzige Studienjahr eine Art Testlauf ist – mit der bohrenden Frage im Hintergrund, ob die Berliner Schule orthodoxe Studenten künftig genauso stark anziehen kann wie die renommierten Jeschiwot in London, New York, Jerusalem oder Toronto.
Der aktuelle Lehrplan ist anspruchsvoll und erlaubt den jungen Männern nur we-
nig individuellen Freiraum. »Trotzdem treffe ich die Bachurim oft noch nach 22 Uhr im Lehrzimmer«, freut sich Rabbiner Kahn. »Dann sind sie mit Literatur eige-
ner Wahl beschäftigt.« Generell beginnen die Studenten den Tag mit Morgengebet und chassidischer Lehre, der Hauptteil des Tages gehört dann dem Studium und der Interpretation des Talmud. Austausch und Diskussion über spezifische Talmud-Traktate laufen teilweise als »Chawruta«, in Zweiergruppen, teilweise aber auch in Seminarform. Zur Vertiefung des Gelernten bietet Dov Kahn wöchentlich eine spezielle Schiur an.
Noch hat fast alles am Lehrbetrieb ei-
nen provisorischen Charakter, stehen in der Bibliothek viele Regale leer. Doch Rabbiner Kahn ist überzeugt davon, dass die Berliner Chabad-Jeschiwa – ebenso wie die »Jeschiwa Gedola« in Frankfurt – erst ei-
nen Anfangspunkt für umfassendere Lehr-
einrichtungen der Lubawitscher in Deutschland bildet. »Hier wird nicht zum Selbstzweck studiert«, betont Dov Kahn. »Im Gegenteil: Das erlernte Wissen soll umgehend weitergegeben werden. Unsere Studenten lernen und diskutieren auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, das wird ihnen später viel helfen. Aber jetzt sind wir hier in Berlin, und wir wollen Austausch und Gemeinschaft mit den Juden dieser Stadt.«
Von Sonntag- bis Donnerstagabend bieten die Bachurim jedem Interessierten Tora-Unterricht an. Jeden Freitag sind sie vor Schabbatbeginn in verschiedenen Gegenden der Hauptstadt unterwegs – mit der Hoffnung, ganz spontan auf Berliner Juden zu treffen. »Von so einer Begegnung können beide Seiten etwas lernen«, sagt der australische Student Dov Barber. »Umso schöner, wenn wir dann mit ihnen Tefillin legen oder später gemeinsam Schabbat feiern können.« Durch ihr orthodoxes Äußeres mit Bart, Hut und schwarzem Anzug stechen die Studenten merklich aus dem Wilmersdorfer Alltagsbild heraus – was die Chance erhöht, von ansässigen Ju-
den tatsächlich wahrgenommen zu werden.
Allgemeine Berührungsängste mit der einstigen »Reichshauptstadt« scheinen die Bachurim nicht zu empfinden. Vielleicht auch ein Privileg ihrer Jugend: Ihr Durchschnittsalter bewegt sich um die 20. Manche sind sogar ausgesprochen neugierig auf die Bundesrepublik, weil sie im eigenen Familien-Stammbaum deutsch-jüdische Linien entdeckt haben.
Rabbiner Kahn, der im New Yorker Stadtteil Crown Heights aufwuchs, mit vier Jahren die ersten jüdischen Texte las und vor seiner Entsendung nach Berlin auch in Brasilien tätig war, denkt derweil mit Rabbiner Teichtal darüber nach, auf welche Weise die Studenten auch ganz praktisch das jüdische Gemeindeleben in Berlin und Umgebung zusätzlich unterstützen könnten. Angedacht sind regelmäßige Besuche in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Haftanstalten. »Bald wollen wir auch die Gottesdienste in kleineren Gemeinden unterstützen«, blickt Dov Kahn voraus, »wenigstens einmal monatlich.« Schon 1998 hat Chabad Lubawitsch in Berlin ein einjähriges Jeschiwa-Programm veranstaltet. »Die erste Rabbinerausbildung in Deutschland nach der Schoa«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal. Zwei der damaligen Studenten sind inzwischen als Rabbiner zurückgekehrt, einer nach Düsseldorf und der andere nach Hamburg. »Das ist auch eines der Ziele unserer Jeschiwa Gedola«, sagt Teichtal. »Wir wollen hier Rabbiner ausbilden, die in Zukunft auch in Deutschland tätig sein können. Damit jede jüdische Gemeinde hierzulande einen Rabbiner bekommt, der mit den gesellschaf-
lichen Herausforderungen vor Ort vertraut ist.«

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