von Hermann Daniel
Rachel Salamander, Inhaberin der Literaturhandlung in München und Berlin, und Anat Feinberg, Professorin für hebräische und jüdische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, ging es wie Simon Dach in Günter Grass’ Novelle Das Treffen in Telgte. Die Organisatorinnen der israelischen Literaturtage vom 16. bis 18. Mai auf Schloss Elmau in Oberbayern hatten schlaflose Nächte hinter sich, in denen sie im Geist immer wieder durchgingen, welche Autoren man brieflich eingeladen, wen man telefonisch zur Teilnahme überredet, wer zugesagt hatte.
Die Ängste waren unbegründet. Die Gäste erschienen – vollzählig und pünktlich. Ruth Almog sprach als Erste »dort«, wie in der israelischen Literatur mitunter das Land bezeichnet wird, das man lieber nicht beim Namen nennen möchte. Auch David Grossman war nach »dort« gekommen, wo die »Nazi-Bestie« aus seinem Roman Stichwort Liebe zuhause war, ebenso Chaim Beer, die Bestsellerautorin Zeruya Shalev, Boris Saidman, dessen Debütroman Hemingway und die toten Vögel gerade auf Deutsch erschienen ist, der Jerusalemer Literaturprofessor Ariel Hirschfeld sowie mit Maria Schrader und Stephan Hunstein zwei herausragende Vorleser. Über das Publikumsinteresse an der Veranstaltung hatte man sich sowieso keine Sorgen machen müssen. Das renommierte Tagungshotel Schloss Elmau war schon Wochen vorher komplett ausgebucht.
Selten hatte man israelische Schriftsteller in Deutschland so offen untereinander und mit Gästen reden hören. So war das Publikum sprachlos, als Ruth Almog, die sich bislang immer geweigert hatte, die Sprache der Täter zu sprechen, auf die Frage, wie sie die Zukunft Israels angesichts der Spirale der Gewalt einschätze, in akzentfreiem Deutsch antwortete: »Hitler hat nachträglich doch gesiegt.« Der Alltag vieler Israelis sei von Angst geprägt, der Gesellschaft werde es dadurch unmöglich, irgendeine »Normalität« zu erreichen. Auch David Grossman sprach über den »Mazaw« – die Lage – in Israel, und beschrieb eindrücklich, wie diese politische Realität jede noch so intime Sphäre des Einzelnen durchdringt. Für Zeruya Shalev ist das Schreiben der Versuch, für einige Stunden aus dieser seelischen Belagerung zu fliehen und in der Welt der Fantasie unterzutauchen. Chaim Beer bekannte, dass er ursprünglich einen Roman schreiben wollte, der von der Rache an den Deutschen handele. Er sei dann aber durch eine persönliche Begegnung zu der Erkenntnis gekommen, dass jeder einen Vater und Großvater habe, Opfer wie Täter. Boris Saidmann erzählte dem erstaunten Publikum, dass sein Vater, mit dem er als kleiner Junge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel eingewandert war, jedes Jahr nach Tirol fahre, weil er »die Ordnung, das Klima und die Sauberkeit« dort schätzt.
Auch das idyllische Tagungshotel hatte, passend zu den Vorträgen und Diskussionen, seine eigene deutsche und jüdische Geschichte, wie die Organisatorinnen in abendlicher Runde den israelischen Gäs-ten erzählten. Der Großvater des heutigen Eigentümers Dieter Müller-Elmau hatte einst Hitler als »den von Gott gesandten Führer einer nationalen Revolution« gefeiert. Nach dem Ende des Dritten Reichs war das Hotel zum Erholungsheim für jüdische DPs umgewandelt worden; Rachel Salamander erinnerte sich, dass ihre Mutter Anfang der 50er-Jahre hier einige Monate zugebracht hatte. »Genius loci«, den Geist des Ortes nennt man so etwas.