Sukkotfest

Tag des Urteils

von Yosef Tavori

Der letzte Tag des Sukkotfestes, Hoschana Raba, gilt als Tag des Urteils. Laut dem Sohar wird zwar am Versöhnungstag über einen Menschen geurteilt, dieser Urteilsspruch aber erst knapp zwei Wochen später verkündet. Bis dahin kann jemand also immer noch Buße tun. Allerdings ist gemäß dem Sohar der eigentliche Tag, an dem der Urteilsspruch verkündet wird, Schmini Atzeret, der letzte Tag des Festes, und nicht Hoschana Raba, der Tag davor.
Das Gefühl, dass an Hoschana Raba das Urteil gefällt wird, war so stark, dass viele mit den Tagen der Ehrfurcht verbundene Bräuche diesem Tag zugefallen sind. Einige Machsorim (Gebetbücher) machten den besonderen Status von Hoschana Raba bereits im Gebet für die Hohen Feiertage, Unetane Tokef, deutlich: »An Rosch Ha-
schana wird das Urteil gefällt; und an Jom Kippur wird es geschrieben; und an Ho-
schana Raba wird es besiegelt.«
In den Werken der Weisen findet sich kein Hinweis auf Hoschana Raba als Tag des Urteils. Schließlich gehört Sukkot nicht zu den Hohen Feiertagen, sondern ist eines der drei Pilgerfeste. Doch durch die zeitliche Nähe dieses Feiertags zu den Tagen des Urteils entsteht das Gefühl, alle Feiertage seien Teil eines Ganzen. Im modernen Israel wird ab dem Monat Elul die hebräische Wendung »nach den Feiertagen« (Leacher Hachagim) gebraucht, um den Zeitraum zu bezeichnen, der nach Sukkot zu Ende geht. Um zu den antiken Quellen zurückzukehren: Die Lehren über die Opfer, die an den Feiertagen dargebracht werden müssen, legen nahe, dass die Tage des Urteils und Schmini Atzeret irgendwie aufeinander bezogen sind, denn die Opfergaben sind die gleichen.
Die vielleicht engste Verbindung zwischen den Jamim Noraim und Sukkot ist das Motiv des Lulaw. In der Antike wurde das Winken mit dem Zweig als Zeichen des Siegs gesehen. Die Weisen deuteten das Lulaw-Schwingen an Sukkot als Zeichen des Sieges der Juden über Satan an den dem Fest vorausgehenden Tagen des Urteils. Die Worte »zu deiner Rechten herrscht Wonne für alle Zeit« (Psalmen 16,11) deuteten sie als Zeichen, dass ein Mensch, der die Vier Arten in seiner Hand hält, zeigt, dass er am Tag des Urteils siegreich hervorgegangen ist. Eine der frühesten Quellen, die den besonderen Status von Hoschana Raba in der Synagoge schildert, verwendet dieses Bild des Sieges: »Wenn Hoschana Raba kommt, werden sie Weiden nehmen und siebenmal um die Synagoge schreiten, während der Chasan der Synagoge wie ein Engel Gottes steht und die Toraschriftrolle in seinen Armen hält, und die Menschen schreiten um ihn herum wie um den Altar. Denn so lehrten unsere Rabbiner: Jeden Tag war es gebräuchlich, den Altar zu umschreiten und zu rezitieren: ›Bitte, Herr, erlöse uns; bitte, Herr, bringe Erfolg‹, und am siebten Tag marschierten sie siebenmal um den Altar, denn es steht geschrieben, König David habe ausdrücklich gesagt: ›Ich wasche meine Hände in Unschuld; ich umschreite, Herr, deinen Altar‹ (Psalmen 26,6). Sofort erfreuen sich die Engel und verkünden: ›Das Volk Israels ist siegreich‹«(Midrasch Tehillim).
Der klare Zusammenhang, den die Weisen zwischen den Hohen Feiertagen und dem Fest von Sukkot sehen, ist nicht die Fortsetzung der Ehrfurcht und des Bangens im Angesicht des Urteils, sondern ein Zusammenhang der Freude, in der sich die Gewissheit ausdrückt, dass das Urteil zum Besten ausfallen wird.
Eine andere Seite von Sukkot hingegen macht das Fest zu einem der strengsten Tage des Urteils. Die Mischna sagt, Rosch Haschana sei der Tag des Urteils, an dem alle Sterblichen vor dem Herrn stehen, doch der Versöhnungstag wird in der Mischna nicht als diesem System zugehörig erwähnt. Jom Kippur wird in der Mischna aufgrund der Sühne (Kappara) an diesem Tag genannt, Sühne sowohl für die Unreinheit des Tempels als auch Sühne für die Sünden der Menschen. Als Markierung eines Stadiums im Rechtsverfahren aber findet es keine Erwähnung.
Das gilt nicht für andere tannaitische Schriften: Dort spielt der Versöhnungstag eine Rolle im System der Urteilssprechung, wobei sich die Weisen in folgendem Punkt widersprechen: »Laut Rabbi Meir wird an Rosch Haschana über alles geurteilt, und der Urteilsspruch wird am Versöhnungstag besiegelt. Rabbi Judah sagt, über alles wird an Rosch Haschana geurteilt, und jedes Urteil wird zu seiner angemessenen Zeit besiegelt; an Pessach das Urteil über die Getreideernte; an Atzeret (das Fest der Wochen) das Urteil über die Früchte; an Sukkot das Urteil über das Wasser; und das Urteil über die Menschen wird am Versöhnungstag besiegelt«.
Hier sehen wir das Rechtsverfahren in Phasen unterteilt – es beginnt mit dem Urteil und schließt mit der Verkündung des Urteils ab. In der Ordnung der Tosefta scheint Rabbi Judahs System eine Weiterentwicklung der Methode von Rabbi Meir zu sein. Rabbi Meir bezog sich nicht auf das Urteil über die Getreideernte oder die Obstbäume oder den Regenfall, doch seine Anmerkungen besagen, dass das Rechtsverfahren, das an Rosch Haschana beginnt und an Jom Kippur seinen Höhepunkt er-
reicht, diese Dinge einschließt. Anscheinend wird Jom Kippur als passendes Da-
tum für den Abschluss des Urteils über die Menschen betrachtet, weil er ein Tag der Versöhnung ist. Rabbi Judah aber stellte fest, dass jedes Ding einen eigenen Tag für die Besiegelung seines Urteils hat, der in einem Zeitraum gegen Ende seiner Saison liegt: Pessach ist die entscheidende Jahreszeit für die Getreideernte, Schawuot für Obst, und Sukkot ist der Beginn der Regenzeit. Daher kann man während des ganzen Zeitraums zwischen Rosch Haschana und dem letzten Tag von Sukkot das Urteil über den Regen noch immer zum Besseren be-
einflussen.
Auch wenn uns also ausdrücklich auferlegt war, uns während des Festes von Sukkot zu freuen, durften wir nicht vergessen, dass wir uns, was den Regen angeht, in einem Prozess des Beurteilt-Werdens befanden. Angesichts der schweren Dürre, unter der Israel in den vergangenen Jahren gelitten hat, sollten wir voller Ehrfurcht auf das Urteil warten, das über den Regen dieses Jahres gefällt wurde. Möge es der Wille Gottes sein, uns mit einem guten Jahr mit reichlichem Regen zu segnen.

Der Autor ist Professor an der Talmud-Abteilung der Bar-Ilan-Universität, Ramat-Gan/
Israel; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien. www.biu.ac.il

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