sorgen

Täglich am Telefon

von Annette Kanis

Und wieder der Griff zum Telefonhörer. Mehrmals am Tag ruft Eleonore Mayevska ihre Tochter Tatjana in Haifa an. Die Angst um sie, den Schwiegersohn und das einjährige Enkelkind ist so groß, daß Eleonore Mayevska es nur wenige Stunden ohne ein Gespräch aushält. »Gestern während des Telefonats habe ich diese schrecklichen Sirenen gehört«, sagt die 55jährige besorgt. Ihre Tochter habe sich dann schnell in den Schutzraum der Wohnung zurückgezogen. In den Nachrichten kam später die Meldung vom Raketenbeschuß Haifas.
Es ist erst der dritte Tag, seitdem Tochter und Enkelkind wieder in der nordisraelischen Stadt sind. Die vergangenen drei Wochen konnten sie bei einer Tante in Ma’ale Adumim, einem Vorort Jerusalems, wohnen. Nun hofft Eleonore Mayevska, daß die beiden bald zu ihr nach Chemnitz kommen. »Ich habe Tatjana schon oft gesagt, sie solle doch kommen.« Der Reisepaß für das Baby sei besorgt, die Taschen seien gepackt, doch ihre Tochter hoffe immer noch, daß die Situation sich wieder beruhigen werde. Ihr falle die Trennung von ihrem Mann so schwer. Der könne nicht kurzfristig für einige Wochen nach Deutschland mitkommen. Er arbeitet als Chirurg in einem Krankenhaus zehn Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt, die Operationen finden dort nur noch im Kellergeschoß statt. Er könne nicht einfach weg. Die 31jährige Tatjana habe ihre Arbeit als Bankangestellte unterbrechen müssen, denn ihr Kindermädchen sei längst aus Haifa geflüchtet. Der Bankbetrieb laufe nur noch mit der Hälfte der Angestellten.
Wenn Eleonore Mayevska ihren kleinen Enkelsohn durchs Telefon weinen hört, bekommt sie eine Ahnung davon, wie die derzeitige Situation auch ihn belastet. »Er ist sehr anhänglich geworden und schreit viel«, hat die Tochter berichtet. Die Wohnung verließen sie kaum, ständig seien sie in Angst, daß draußen etwas passieren könne. Doch Eleonore Mayevska zweifelt, ob ein kleiner Schutzraum im sechsten Stock eines Hochhauses – wo ihre Tochter wohnt – sicher genug sein kann.
Wenn sie den Telefonhörer wieder auflegt, gehen ihre Gedanken und Sorgen weiter. Bis zur nächsten kleinen Beruhigung, wenn Mutter und Tochter wieder miteinander sprechen.
Heute morgen hat sie wieder telefoniert. »Es ist etwas entspannter als gestern, doch die Ruhe ist sehr zerbrechlich«, sagt Eleonore Mayevska leise. »Sie müßte dauernd sein. Uns bleibt nur die Hoffnung.«
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David Leschem ist Vorsitzender von Keren Hayesod in München und zur Zeit besonders aktiv, um an zusätzliche Spendengelder zu kommen. Eine halbe Million Euro habe die Hilfsorganisation in den letzten Wochen bundesweit durch Spendenaufrufe sammeln können, sagt er. »Familien, die viel Zeit im Bunker verbringen, können mit einer warmen Mahlzeit versorgt werden, und vielen Kindern konnten wir bereits den Aufenthalt in Ferienheimen im Landesinneren ermöglichen.«
Vor acht Wochen, als es im Norden Israels noch ruhig war, ist David Leschem zu Besuch bei seinem Freund Uri im Norden Israels gewesen. »Da gab es nicht die geringsten Anzeichen, daß die Situation sich so entwickeln könnte«, sagt der 63jährige Neurologe, der seit vier Jahrzehnten in München lebt. Sein Freund aus Kindertagen ist vor einiger Zeit von Tel Aviv nach Ma’alot gezogen, um im Ruhestand das Landleben zu genießen. Doch die Stadt liegt nur knapp zehn Kilometer südlich der libanesischen Grenze. Die Sommeridylle hat sich längst gewandelt.
Täglich telefoniert der Arzt mit seinem Freund, jeden Vormittag und jeden Abend. Gestern habe er wieder die Sirenen durchs Telefon gehört. »Die Bedrohung ist präsent, und Uri ist sehr besorgt über die weitere Entwicklung: Doch was die Lebensgefahr angeht, nimmt er die Situation recht gelassen und zuversichtlich«, faßt Leschem seine Eindrücke zusammen. Der Freund habe schon mehrere Kriege erlebt. Als er vor einigen Tagen vom Einkaufen nach Hause kam, sei 100 Meter hinter seinem Wagen eine Katjuscha explodiert. »Sie hat mich gesucht, aber sie hat mich nicht gefunden«, habe Uri die konkrete Gefahr im nächsten Telefongespräch kommentiert.
Vor etwa einer Woche habe Uri sich bei seinem Sohn in Herzlija erholen wollen, doch nach zwei Tagen sei er schon wieder zurück in Ma’alot gewesen. »Er hat sich als Flüchtling nicht wohlgefühlt.« Außerdem sei er mit der Mutter seiner Schwiegertochter gar nicht zurechtgekommen. »Die war schlimmer als die Hisbollah«, habe er erzählt. David Leschem lacht. Ihn beruhigt, daß sein Freund den Humor noch nicht verloren hat.
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Bei Amnon Orbach läuft ständig ein israelisches Radioprogramm im Hintergrund. »Wenn die Sirenen in Haifa heulen, weiß ich es sofort«, sagt der 76jährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Marburg. Seit 20 Jahren lebt er in Deutschland. Zu seiner Familie, seinem Sohn in der Nähe von Jerusalem, seiner Schwester in Tel Aviv sowie zu den unzähligen Freunden, von denen einige auch im Norden Israels leben, hält er engen Kontakt. Bei den regelmäßigen Telefonaten bekommen neuerdings Fragen gewichtige Bedeutung, die sonst eher beiläufig sind. »Wo schläfst du?« kann heißen »Wie lange warst du im Bunker?«, »Arbeitest du gerade?« hat nichts mit der Ferienzeit zu tun, sondern mit den Möglichkeiten, überhaupt zur Arbeit zu gelangen angesichts der Raketenbedrohung.
In Jerusalem geboren, kennt Amnon Orbach das Leben mit der Bedrohung durch den Terror. Er selbst hat immer noch eine Wohnung in der israelischen Hauptstadt und reist nächste Woche auch wieder dorthin. »Ich fahre nicht mit anderen Gefühlen als sonst«, sagt er bestimmt, »ich lebe mit diesem Terror, seitdem ich auf der Welt bin.« Doch eine Studienreise nach Israel, die er für Marburger Bürger organisiert hatte, sei abgesagt worden. Sie sollte die lebendige Vielfalt des Landes und seiner Bewohner zeigen und dabei auch in den Norden führen. »Die Teilnehmer haben Angst, und das kann ich gut verstehen«, sagt Amnon Orbach.
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Tatjana Nechemkina aus Berlin telefoniert jeden Tag mit ihrem hochbetagten Vater in Aschkelon, nahe dem Gasa-Streifen. »Er klingt optimistisch«, sagt sie, »aber vielleicht möchte er mich nur beruhigen.« Die aktuelle Situation in Israel bestimmt den gesamten Alltag der 58jährigen, Angst und Sorge um ihren Vater begleiten sie ständig. Mit seinen 90 Jahren könne dem alten Mann ein Umzug nach Berlin nicht mehr zugemutet werden, sagt sie leise.
Erst im Juni war sie zu einem Besuch in Aschkelon. Im September will der Enkelsohn den Großvater besuchen. Tatjana Nechemkina hofft, daß sich bis dahin die Lage beruhigt hat. Doch sehr zuversichtlich klingen ihre Worte nicht.

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