Russisch und Deutsch halten

Süße Heimat Sprache

Gena Maizele hat Glück. Die 75jährige ist eine der wenigen Zuwanderer, die neben Russisch auch Jiddisch sprechen. »Das klingt wie Deutsch, und oft verstehen mich die Leute«, sagt sie und lacht verschmitzt. Die alte Dame mit dem weißen zusammengebundenen Haar sitzt vor dem Sprechzimmer von Birgit Worm, der Sozialarbeiterin der Chemnitzer Gemeinde. Die spricht perfekt Russisch. Das müsse sie auch, sagt sie. Bei einem Zuwandereranteil von 98 Prozent in der Gemeinde gehöre dies geradezu zum Profil ihrer Arbeitsstelle. »Viele setzen voraus, daß ich in der Sprechstunde mit ihnen russisch rede«, sagt Worm. »Doch weil es für die Zuwanderer besser ist, soviel wie möglich deutsch zu sprechen, lasse ich oft etwas davon mit einfließen.« An manchen Tagen aber warten vor ihrer Tür sehr viele Menschen. »Dann gehe ich den Weg des geringsten Widerstands und spreche nur russisch«, gesteht die Sozialarbeiterin. »Wissen Sie, Deutsch ist in meiner Sprechstunde mehr etwas fürs Grobe. Die Sozialabteilung ist nicht der Ort, eine neue Sprache zu lernen.«
Anders als Birgit Worm beharrt die Gemeindesekretärin Gerlinde Freier darauf, mit den Zuwanderern nur deutsch zu sprechen. Das liegt jedoch schlichtweg daran, daß sie Russisch nicht kann. Zwar hat sie es in der Schule gelernt, doch das ist lange her. »Ich versuche, langsam und nicht sächsisch zu reden. Aber ich lasse nicht locker.« Die Sekretärin hat die Erfahrung gemacht, daß die Zuwanderer sich erstaunlich gut verständlich machen können, manchmal sogar mit nur einem Wort. »Wenn sie zum Beispiel ›Gemeindebeitrag‹ sagen, weiß ich, sie wollen bezahlen.« Manchmal jedoch ist Gerlinde Freier mit ihrem Latein am Ende. Dann ruft sie ihre Kollegin im Nebenraum, die Frau an der Wache. Die ist Zuwanderin, spricht aber inzwischen schon sehr gut Deutsch. »Wenn ich nicht mehr weiter weiß, kommt sie mir zu Hilfe.«
Am Schwarzen Brett im Gemeindehaus steht in Deutsch und Russisch: »Alle Informationen an der Anzeigetafel schreiben Sie bitte auf Deutsch und Russisch.« Ruth Röcher, die aus Israel stammende Religionslehrerin der Gemeinde, betont, daß es beide Sprachen sein müssen. »Wir lassen nicht zu, daß die Informationen über Gemeindeaktivitäten und Vereine nur auf Russisch veröffentlicht werden.« Natürlich redeten die Menschen untereinander russisch, sagt Röcher. Das sei auch in Ordnung. »Aber die Kandidaten für den Gemeinderat und den Vorstand, sollten eini- germaßen gut Deutsch sprechen. Denn sie haben auch Kontakt mit den städtischen Behörden.« Ruth Röcher weiß, wovon sie redet. Sie selbst ist Vorstandsmitglied. Mit Hebräisch wäre sie im Rathaus nicht weit gekommen. Tobias Kühn

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Purim in der Bremer Gemeinde. Auf der Bühne des Gemeindesaals ein Theaterstück, die Schauspieler sprechen russisch. Plötzlich frieren ihre Bewegungen ein. Auftritt für Marina Cornea. Die Sozialpädagogin, die gut Deutsch spricht, spielt das zuvor Gezeigte nach, übernimmt verschiedene Rollen, improvisiert. Damit auch die im Saal, die kein Russisch verstehen, ihren Spaß haben. In diesem Jahr, erzählt Cornea, stehe ein deutsches Stück auf dem Programm. Eine Gerichts-Show, und wieder wird ein Dolmetscher mitspielen. Praktisch alle Mitglieder der fast 1.300 Köpfe zählenden Gemeinde kommen aus Ländern, die früher einmal zur Sowjetunion gehörten. Nur wenige der Familien, die sich in der Gemeinde engagieren, seien nicht russischsprachig, berichtet Cornea. Sie selbst kam 1994 mit ihrer Familie aus Weißrußland.
In der Gemeinde ist der Umgang mit Sprache laut Cornea eine flexible Angelegenheit. Klar ist: Die Kinder und Jugendlichen sollen die Landessprache beherrschen. Im Jugendzentrum wird Deutsch gesprochen. Ebenso im gemeindeeigenen Hort und Kindergarten, wo aber durchaus russisch oder hebräisch gesungen wird. Religionsunterricht findet in deutscher Sprache statt. Die Älteren in der Gemeinde, und das sind die meisten, sprechen aber die Sprache, »in der sie sich wohl und heimisch fühlen«: Russisch. Das ist so bei Vorträgen, Feiern oder anderen Veranstaltungen. »Gemeindesprache« indes ist Deutsch – im Präsidium und im Gemeinderat, bei der Korrespondenz. Die Menschen, die in der Ge- meinde angestellt sind, sollten die Landessprache beherrschen. Sichtbar wird die Zweisprachigkeit in der Gemeinde bei Hinweisen und Publikationen. Die Info-Briefe sind deutsch-russisch. Genau so wie der Hinweis, daß im Gebetsraum nur ausgeschaltete Handys erlaubt sind. Milko Haase

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Als Landesrabbiner William Wolff vor Jahren aus England kam, um in Mecklenburg-Vorpommern seinen Dienst anzutreten, hatte er auch ein Russisch-Wörterbuch in der Tasche. Immerhin kommen fast alle seine »Schüler« im Nordosten Deutschlands aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch in der Rostocker Gemeinde war die Amtssprache bislang Russisch. Inzwischen sind die meisten Aushänge allerdings in Russisch und Deutsch verfaßt. Auch die Gemeindezeitung bringt seit kurzem eine kleine deutsche Ausgabe, und »Mechaje«, die Theater- gruppe der Gemeinde, will nicht mehr ausschließlich mit russischen Texten auftreten. Eine Herausforderung. Manche der rund 700 Gemeindemitglieder leben seit zehn Jahren in der Hansestadt, einige erst seit ein paar Wochen. »Will man alle erreichen, ist es einfach praktischer, sich in der gewohnten Sprache der alten Heimat zu verständigen«, sagt Gemeindechef Jury Rozov. Zurückziehen wolle man sich dennoch nicht. »Ich sage den Leuten immer wieder, wie wichtig es ist, daß sie Deutsch lernen«, wichtig fürs Selbstbewußtsein und für die erfolgreiche Integration. »Nehmt euch ein Beispiel an Ludmilla«, sagt Rozov, wenn die Teilnehmer am Deutsch-Kurs mal wieder am Genitiv und den gebeugten Verben verzweifeln.
Ludmilla Yatlo hat es geschafft. Die 32jährige kann sich noch gut erinnern, wie sie mit jeder einzelnen Vokabel gekämpft hat, damals, 1997, als sie mit Mann und Tochter aus der Ukraine nach Rostock kam. »Wir hatten nichts, verstanden nichts und mußten doch irgendwie klarkommen«, erzählt sie. Nächtelang haben sie gepaukt. Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie. Immer wieder. Die Bedeutung von »wir« und »ihr« zu begreifen, war wichtig, um Fuß zu fassen in der neuen Heimat. Inzwischen hat Ludmilla ihren eigenen kleinen Laden. Sie ist überzeugt, daß man sich integrieren und dennoch seine Identität behalten kann: »Ich habe viel gewonnen und nichts verloren.« Manuela Pfohl

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Leo Kupfer ist erster Ansprechpartner, wenn man sich telefonisch bei der Synagogen-Gemeinde Köln meldet. In der dortigen Zentrale macht er Telefondienst. »Wenn Leute hier anrufen, ist in sehr vielen Fällen die erste Frage, ob man mit mir auch russisch sprechen kann«, erzählt er. Man kann. Denn Leo Kupfer beherrscht die deutsche und die russische Sprache. Letztere hat er sich selbst beigebracht, im Austausch mit einem russischsprachigen Freund, den er in den siebziger Jahren kennenlernte. Damals war in der Kölner Gemeinde nur selten Russisch zu hören.
Heute sind Leo Kupfers Sprachkenntnisse für viele Gemeindemitglieder eine große Erleichterung. Mehr als 80 Prozent der rund 5.000 Mitglieder der Synagogen-Gemeinde sind Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Geschäftsführer Benzion Wieber betont, daß Zweisprachigkeit Voraussetzung dafür sei, damit jeder genügend am Gemeindeleben teilnehmen könne. Er zählt einige Beispiele aus dem Gemeindealltag auf: Rabbiner Netanel Teitelbaum hält seine Rede beim Kiddusch auf deutsch, im Anschluß wird sie ins Russische übersetzt. Bei Gemeindeversammlungen erfolgt eine Synchronübersetzung. Die monatliche Gemeindezeitung erscheint zweisprachig, und schaut man sich an den Informationswänden des Wohlfahrtszentrums oder in der Synagoge um, fällt auf, daß alle Aushänge in deutsch und russisch verfaßt sind. In der Bibliothek, wo es eine große Auswahl russischsprachiger Bücher gibt, im Frauenverein und auch in den Jugendgruppen hört man Russisch.
Geschäftsführer Benzion Wieber hat dafür Verständnis. »Die alten Jeckes in Israel und auch in den USA haben nach der Auswanderung auch ihre, eben die deutsche Sprache gepflegt.« Jetzt seien es verschobene Positionen, mit Zeitdruck sei da wenig zu erreichen. »Wir leisten eine historische Integrationsarbeit und hoffen, daß sie in einigen Jahrzehnten als gelungen angesehen werden kann.« Annette Kanis

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»Wenn man seine Umgebung nicht versteht, kann sie keine Heimat sein und kann es auch nie werden«, sagt Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er kennt die Probleme, die russischsprachige Zuwanderer mit der neuen Umge- bung und der ungewohnten Sprache ha- ben. Aber es gibt auch die Klagen alteingesessener Gemeindemitglieder, die im Kiddusch-Raum der Synagoge, auf dem Flur der Gemeindeverwaltung oder im Kindergarten gelegentlich kein Wort mehr verstehen. »Russisch hat Deutsch als Umgangssprache in den Hintergrund gedrängt«, sagt der Vorsitzende der 11.000 Mitglieder zählenden Gemeinde. Gleichzeitig sieht Joffe das Thema auch als eine Art Generationenfrage. Angesichts der zahlreichen Angebote an russischsprachigen Zeitungen, TV- und Rundfunkprogrammen und kulturellen Veranstaltungen haben es nicht wenige ältere Gemeindemitglieder aufgegeben, die Sprache der neuen Heimat zu lernen. Ebenso gibt es aber auch immer mehr Kinder von Zuwanderern, die kaum noch Russisch sprechen können, bedauert der Gemeindechef. Dies sei ein immenser kultureller Verlust. Daher müsse ein Schwerpunkt der sprachlichen Gemeindearbeit auch darauf liegen, russischsprachige Kurse für Kinder in Sport oder Musik anzubieten.
Gleichwohl sollte nach Joffes Ansicht die Umgangssprache in den Räumen der Gemeinde Deutsch sein. »Sehr sensibel und mit viel Fingerspitzengefühl wollen wir wieder Deutsch stärker als offizielle Sprache in den Vordergrund der Gemeinde rücken«, sagt er. Joffe hatte beim Jahresempfang angekündigt, Plakate in den Gemeinderäumen aufhängen zu lassen, mit denen in netter und teils witziger Form daran erinnert werden soll, doch bitte deutsch zu sprechen. Schon alleine aus Gründen der Höflichkeit sollen auch zugewanderte Gemeindemitarbeiter untereinander in der hiesigen Landessprache reden, wenn Publikum in der Nähe ist. »Schließlich sprechen die russischsprachigen Zuwanderer in Israel untereinander auch die hebräische Landessprache, wenn andere in der Nähe sind«, meint der Gemeindevorsitzende. Aber es geht um mehr als nur Höflichkeit. Es geht auch um die Gemeinsamkeit in der Einheitsgemeinde. »Die Lösung der Probleme der Jüdischen Gemeinde zu Berlin liegen zum einen in der Modernisierung unserer Gemeindeverwaltung, aber zum anderen auch in einer gemeinsamen Umgangssprache«, ist sich Gideon Joffe sicher. Christine Schmitt

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»Bitte schließen Sie die Tür, es zieht« steht auf einem Zettel im Gemeindehaus der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg in Stuttgart. Und gleich darunter das Ganze noch einmal auf russisch. Etwa drei von vier Mitgliedern in Württemberg sind Neuzuwanderer der ersten und zweiten Generation. Ihre Erfahrungen mit der deutschen Umgebung und der deutschen Sprache sind je nach Alter, Herkunftsfamilie und -region sehr unterschiedlich. Die Alten im Betreuten Wohnen bleiben bei ihrer Muttersprache, die Generation der Töchter und Söhne lebt mehr oder minder zweisprachig, und bei manchen Jungen passen die Eltern gut auf, daß sich das schwäbische Idiom – in den württembergischen Schulen durchaus nicht als Makel empfunden – nicht allzubreit macht.
1991/92, zeitgleich mit den vielen sogenannten Kontingentflüchtlingen, kam Barbara Traub nach Stuttgart. 1993 begann die heutige Sprecherin des Vorstands der IRG mit Integrationskursen. »Die meisten der neuen Mitglieder aus den GUS-Staaten wollten nicht nur die deutsche Grammatik lernen, sie wollten sich auch in die Ge- sellschaft integrieren, arbeiten, studieren«, sagt Traub. Sie nahm die Kursteilnehmer mit zum Gottesdienst, zu einer Beschneidung, übte aber auch das Schreiben eines Lebenslaufs und in Rollenspielen Bewerbungssitutationen. »Diese Generation Einwanderer sind heute die besten Mittler zwischen den Deutschen und der jüngsten Einwanderergeneration«, sagt Traub, die vor ihrer Stuttgarter Zeit in Wien als Psychotherapeutin arbeitete und weiß, was ein Kulturwechsel für Folgen haben kann. »Wir wollen Integration statt Assimilation«, sagt sie. Inzwischen wird im Kindergarten nur noch deutsch gesprochen. Die Gebetbücher in der Synagoge sind zweisprachig (Hebräisch-Russisch), die Auslegung des Wochenabschnittes beim Kiddusch geschieht in deutsch mit russischer Übersetzung, das Gemeindeblatt informiert ebenfalls zweisprachig wie auch die Verlautbarungen der Mitgliederversammlung. Brigitte Jähnigen

Kultur

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