von Alfred Bodenheimer
Alfred Döblins Exilroman Babylonische Wanderung beginnt mit dem Erwachen eines babylonischen Gottes, der in einen tiefen Schlaf gefallen war. Und der dann feststellen muss, dass sein Himmel verwaist, seine Macht über die Menschen vorüber ist. Über die Götter und ihr früheres Herrenleben heißt es bei Döblin: »Essen und Trinken, Schmausen war die Hauptsache bei der verrotteten Gesellschaft. Das sah man ihrem Gesicht an. Sie lebten von Opfern auf der Erde, besonders Rauch- und Brandopfern.« Und einige Sätze weiter: »Das Hauptorgan in ihrem Gesicht war die Nase. Statt eines weisen Gehirns, eines gütigen Herzens hatten sie sich diese ungeheuren Nasen angeschafft, mit denen sie meilenweit und unausgesetzt rochen. Sie ähnelten darin dem Vieh auf der Weide, das, wenn es nicht schläft, auch unausgesetzt rupft und kaut.«
Döblins satirische Darstellung des heidnischen Götter- und Opferglaubens kon- trastiert natürlich mit der jüdischen Vorstellung der Opfer, die im Zentrum der ersten Sidrot des 3. Buch Moses’ stehen. Im ersten Kapitel von Prophet Jesaja werden Opfer verschmäht, die als Ersatz für eine gerechte Gesellschaft anstatt Zeichen, für deren Gottesnähe missbraucht wurden. Und im Psalm 50,13 heißt es: »Wenn Ich hungrig sein werde, werde Ich es nicht dir sagen, denn mir gehört die Erde und ihre Fülle.« Solche Bibelstellen aber bestätigen vor allem, dass die Gesellschaft dazu tendierte, Opfer genau in diesem Sinne misszuverstehen. Sie wurden als »Besänftigung« Gottes durch großen zeremoniellen Aufwand verstanden, während im täglichen Leben andere Gesetze galten als die göttlichen. Das Opfer, das dann gebracht wird, gilt gar nicht mehr Gott, es gilt vielmehr einem imaginierten Wesen, das dem von Alfred Döblin gezeichneten Gott mit der Kolbennase sehr nahe kommt. Opfern unter den falschen ethischen und geistigen Voraussetzungen ist also, selbst wenn alle Vorschriften peinlich eingehalten werden und nur im Tempel geopfert wird, ein letztlich heidnischer Akt, er verwandelt Gott in ein Mitglied des vorderorientalischen Götterkollegiums.
Maimonides hat im »Führer der Verirrten« die These vertreten, die Opfergesetze hätten den religiösen Bedürfnissen der damaligen Generation entsprochen, in einer Zeit, die von heidnischem Opferdienst getränkt war: sie seien nicht in sich selbst mit Sinn versehen, sondern in ihrer Funktion, das Volk zu jener Zeit zum Dienst an dem einzigen Gott zu erziehen. Obschon Maimonides selbst in seinem Gesetzeswerk »Mischne Tora« die Opfergesetze allen anderen Gesetzen gleichwertig behandelt, hat seine Behauptung über die Zeitgebundenheit der Opferidee über die Jahrhunderte zu vielen Reaktionen geführt. Nechama Leibowitz hat sich damit in der Einleitung ihres Bandes zum Buch Wajikra beschäftigt. Wir wollen die Frage hier aber von der anderen Seite her angehen: Wenn Opfer doch offenbar ein heidnisches »Zeremonialdenken« fördern, sind sie dann nicht kontraproduktiv? Wäre das Volk Israel ohne Opfer, mit einer reinen Fest- und Gebetskultur, dem monotheistischen Gedanken nicht unmittelbarer begegnet als mit dem verordneten Schlachten von Tieren?
Zwei Antworten lassen sich auf diese Frage unmittelbar geben: Erstens, dass ein Gebot nicht daran zu messen ist, wozu es im Fall seiner negativen Auswüchse entartet. Zweitens, dass die Opfergesetze unbegründete Satzungen (Chukim) und im Grunde durch rationale Fragestellungen keinesfalls zu erschüttern sind. Es sei aber auch durch das Beispiel eines bestimmten Opfers gezeigt, dass das Opfer überhaupt die Stellung des Menschen in der Welt erst fixiert. Das 3. Buch Moses (5, 20-26) behandelt »Ascham Gesela«, das Opfer eines Menschen, der einst finanziellen Forderungen unredlich abgeschworen hat und später seinen Meineid gesteht. Demjenigen, den er betrogen hat, muss er das Geschuldete und zusätzlich ein Viertel des Kapitalwerts noch am Tag des Widerrufs bezahlen. Danach aber muss er einen Widder als Schuldopfer (Ascham) vor Gott bringen, und der Priester vollzieht die Sühne, wenn dieses Opfer gebracht ist. Das bedeutet zweierlei: Erstens, dass ein Opfer erst erwünscht ist, wenn es als Ergänzung zum wiedergutgemachten Unrecht erfolgt und nicht anstelle der Wiedergutmachung. Zweitens, dass hier von einer »Untreue gegen Gott« (3. Buch Moses, 5,21) die Rede ist, indem Gott – wie Rabbi Akiwa und die Kommentatoren erklären – gewissermaßen in Zeugenfunktion agierte, als es zu einer Art von Vertragsverhältnis zwischen den Menschen kam. Mit dem falschen Schwur wird, wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch erklärt, der »Garant der Verkehrstreue« für eine Lüge aufgerufen, und dieses Vergehen muss gesühnt werden.
Hier wird eine Idee des Opferns im Judentum offenbar: Es führt weder als solches zur Absolution noch lässt sich der Alltag des Menschen vom Opfer trennen. Das Opfer ruft dem Menschen wieder ins Be-
wusstsein, wem er verantwortlich ist, auf wessen Geheiss er ethisch handeln soll. Es als »Zeremonialgesetz« vom Rest der Gesetze zu trennen, bedeutet auch diesem Rest seine Integrität zu bestreiten.
Und was bedeutet dies in der mittlerweile über zweitausend Jahre alten opferlosen Zeit? Es bedeutet, dass die Gebete um die Rückkehr des Tempel- und Opferdienstes nicht nostalgisches Dekor unserer Gebete sind, sondern eine Dimension des Judentums wachrufen, die wir uns gar nicht mehr vergegenwärtigen können.
Maimonides hat im »Führer der Verirrten« mit der Zeitgemäßheit des Opfergebotes eine psychologisch und sozialhistorisch relevante Bemerkung gemacht. Doch Gebote entwickeln durch die Praxis und die fortlaufende Auseinandersetzung der Menschen mit ihnen eine eigene überdauernde Gemäßheit. Theoretische Reflexion wird den Gehalt dieser Realität nie ersetzen können.
Wajikra: 3. Buch Moses 1,1 – 5,26