von Chaim Guski
Der Wochenabschnitt Ki Tissa besteht aus vielen Anweisungen, Beschreibungen und technischen Einzelheiten. Der Text ist sehr kompliziert und gehaltvoll. Er fordert den Leser heraus, nach dem tieferen Sinn der Tora zu forschen und ihr noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als er es ohnehin schon gewohnt ist. Diese besondere Aufmerksamkeit ist notwendig, denn die Parascha enthält Stolpersteine, die auch die großen Kommentatoren herausforderten.
Die Rabbiner stellten sich schon immer eine Reihe interessante Fragen: Welche Rolle spielt Aharon bei der Episode mit dem Goldenen Kalb? Fielen die Kinder Israels in großem Maße in genau den Götzendienst zurück, dessen Zeugen sie im Lande Ägypten waren? Fertigte Aharon ihnen ein Abbild der ägyptischen Götzen an?
Die oberflächliche Lesung des Textes lässt diesen Schluss zu, und so kamen einige Kommentatoren in Schwierigkeiten: Denn wie war zu erklären, dass Aharon, der Bruder von Moses und ernannter Kohen Gadol (Hohepriester), einen solch fatalen Fehlschritt machen konnte?
Der Midrasch Rabba erklärt, Aharon habe nur sein Leben retten wollen. Es steht geschrieben (2. Buch Moses 32,1): »Da versammelte sich das Volk um Aharon«, dass er ihnen ein Götzenbild machte. Denn er war für den Gottesdienst zuständig. Dass Aharon dem Wunsch des Volkes nachgab, wirft jedoch ein schlechtes Licht auf ihn. Kann die Tradition zu Aharons Verteidigung annehmen, dass er das Idol baute, weil er um sein Leben fürchtete? Eines der unumstößlichsten Prinzipien des Judentums besagt zwar, dass wir in Lebensgefahr jedes Gebot übertreten dürfen, aber unter keinen Umständen dürfen wir uns zum Götzendienst, zum Mord oder Ehebruch zwingen lassen. Andere Kommentatoren schrieben, Aharon habe versucht, die Fertigstellung des Goldenen Kalbs zu verzögern bis zum Zeitpunkt, an dem Moses zurückkehrt und die Ereignisse wieder in die richtige Bahn lenken würde. Deshalb heißt es in Vers 5: »Morgen ist ein Festtag« – also nicht heute.
Aber dennoch wäre Aharon immer noch beteiligt an der Anbetung des Götzen. Völlig absurd ist die Annahme, bei dem hier Genannten würde es sich um einen völlig anderen Aharon handeln! Ibn Ezra, einer der großen Ausleger des Mittelalters, greift beispielsweise dieses Argument auf und weist es weit von sich.
Es ist aber trotz allem anzunehmen, dass Aharon keinerlei Schuld am Götzendienst Israels hatte, denn er wird später auch nicht bestraft. Stattdessen wird er während der Wanderung durch die Wüste im Stiftszelt dienen und mit Moses weiterhin die Kinder Israels führen. Aharons einziges Vergehen wird im vierten Buch Moses genannt (20,24): »Aharon soll zu seinem Volk eingehen, denn er soll in das Land, das ich den Kindern Israels gebe, nicht kommen, weil ihr meinem Befehl nicht nachgekommen seid bei den Wassern von Meribah.« Dieses wichtige Ereignis des Goldenen Kalbs wird hier nicht erwähnt, und Aharon wird auch nicht be- straft, wenn Moses den Leviten befiehlt, alle diejenigen zu töten, die am Götzendienst beteiligt waren.
Damit ist eine der Fragen, die eingangs gestellt wurden, nahezu beantwortet. Aharon hat, wenn man die Sachlage überblickt, wohl nicht an der Durchführung des Götzendienstes mitgewirkt. Wenn wir betrachten, was Aharon tatsächlich tat und was die Tora erzählt, dann können wir Aharon entlasten und einen Großteil der Kinder Israels gleich mit. Das Volk sagte zu Aharon: »Steh auf, mache uns einen ›Gott‹, der vor uns hergeht, denn dieser Mann Moses, der uns aus Ägypten geführt hat – wir wissen nicht, was mit ihm ist.«
Diejenigen, die hier zu Aharon sagen »Steh auf!« verlangen nicht nach einem Götzen, den sie anbeten können und vor dem sie sich niederwerfen können. Sie verlangen nach einem Ersatz für Moses, von dem sie nicht wissen, was ihm zugestoßen ist. Sie verlangen nach einem physischen Ersatz für denjenigen, der bisher mit Gott in Verbindung gestanden hatte. Sie nahmen fälschlicherweise an, man benötige einen Mittler zwischen ihnen und Gott, denn bisher stand ihnen Moses stets zur Seite. Daraufhin fertigte Aharon ein goldenes Kalb, und nur ein kleiner Teil der Beteiligten trieb Götzendienst. Einige Menschen haben jedoch gerufen: »Dies sind eure Götter, die euch aus Ägypten herausgeführt haben« (2. Buch Moses, 32,4). In der Tora steht tatsächlich die Pluralform, eine Anspielung auf die Götzen Ägyptens. Zudem heißt es »eure« und nicht »unsere«.
Was für den Midrasch Tanchuma ein klarer Hinweis darauf ist, dass die »Verführer« Ägypter waren, die mit den Kindern Israels das Land verlassen hatten. Letztendlich folgten 3.000 Männer dem Aufruf. Vers 28 beziffert so die Anzahl der getöteten Götzendiener. Die Zählung der Männer im ersten Kapitel des vierten Buches Moses ergibt dagegen ein Gesamtergebnis von 603.550. Also weniger als ein Prozent der Männer folgte dem Aufruf zum Götzendienst. Von einem massenhaften Rückfall in den Götzendienst kann also keine Rede sein. Aharon versucht den Kurs dennoch zu korrigieren, denn dem Aufruf »dies sind eure Götter« antwortet er mit dem Bau eines Altars für Gott, und hier verwendet die Tora tatsächlich den Namen Gottes und meint nicht das Goldene Kalb. Sondern sie sagt: »Morgen ist ein Festtag für Gott.«
Aharon macht eindeutig einen Fehler, wenn er dem Drängen des Volkes nachgibt, Moses durch ein Bildnis zu ersetzen. Es war jedoch ganz offensichtlich nicht seine Absicht, einen Götzendienst zu begünstigen oder zu fördern. So kann man verstehen, warum Aharon für das Vergehen nicht verurteilt wird. Er muss jedoch gemerkt haben, dass es unter den Kindern Israels viele gegeben hatte, die sich zum Götzendienst überreden ließen.
Ki Tissa: 2. Buch Moses 30,11 – 34,35