Iryna Bryl hat immer ihren Paß dabei. Keine Woche vergeht, in der sie ihn nicht vorzeigen muß. Doch er gilt nur in ihrer Stadt: der Leipzig-Paß. In Museen und bei vielen Kulturveranstaltungen bekommt die 69jährige damit 50 Prozent Ermäßigung. Weil sie davon reichlich Gebrauch macht, ist Iryna Bryl nur selten zu Hause. Jeden Montag und Donnerstag geht sie zum Sprachkurs, Dienstagabend zum Literaturzirkel, mittwochs zur Gymnastik. Hin und wieder muß sie ausgeliehene Bücher in die Bibliothek zurückbringen, manchmal steht ein Arzttermin im Kalender. Dann sind da noch die Abende mit den Freundinnen: im Theater, in der Oper, im Konzerthaus, im Kino. Nicht zu vergessen die regelmäßigen Besuche im Stadtgeschichtlichen Museum und in der Gemäldegalerie.
Wer Iryna Bryl nicht kennt, könnte sie für eine Beamtenwitwe oder pensionierte Studienrätin halten. Doch die Dame mit dem kurzen grauen Haar unter der aparten weißen Wollmütze bekommt weder Rente noch Pension. Da die frühere Bauingenieurin erst vor acht Jahren aus der Ukraine nach Deutschland kam und hier nie erwerbstätig war, erhält sie nur die sogenannte Grundsicherungsleistung. Das sind im Monat 265 Euro. Zusammen mit ihrem Mann, der als Haushaltsvorstand etwas mehr erhält, kommen die beiden auf monatlich 596 Euro. Miete und Heizung zahlt das Sozialamt.
Und trotzdem: »Wir sind keine armen Leute«, sagt Iryna Bryl fast ärgerlich. »Wir stehen auf der niedrigsten Stufe der deutschen Gesellschaft, aber wir sind zufrieden.« Zwei Stunden hat sich die vielbeschäftigte Dame an diesem Vormittag Zeit genommen und ist ins Haus der Leipziger jüdischen Gemeinde gekommen, deren Mitglied sie seit ihrer Zuwanderung ist.
Neben Iryna Bryl sitzt ihre Freundin Sofya Rapoport, eine 73jährige kleine Frau mit kurzem rotgefärbten Haar. Auch sie erhält Geld vom Sozialamt. Die ehemalige Erzieherin und Logopädin kam vor acht Jahren von Sankt Petersburg nach Leipzig. Die Debatte um die neue Unterschicht verstehen die beiden Frauen nicht. Der Begriff Armut sei unkorrekt, sagt Iryna Bryl, und ihre Freundin nickt. »Die Menschen könnten etwas machen, wenn sie wollten.« Befremdlich finden Bryl und Rapoport das deutsche Klagen. Früher, als Iryna Bryl noch in der Ukraine lebte, habe sie weniger als 30 Euro Rente im Monat bekommen, sagt sie. »Das hat zwei Wochen gereicht, dann war nichts mehr übrig. Wir haben gebettelt.« Auch Sofya Rapoport lebte damals in Verhältnissen, die man sich in Deutschland nicht vorstellen kann. Die Witwe hatte ein Zimmer von 13 Quadratmetern in einer Kommunalka, einer sowjetischen Zweck-WG. »Wir haben uns zu fünft Küche und Bad geteilt.«
Kann man deutsche Armut mit Armut in Rußland vergleichen? »Nein«, sagt Boris Bujanow. Der Mann mit dem streng gescheitelten Haar ist Sozialberater in der Leipziger jüdischen Gemeinde. Selbst kein Jude kam er Mitte der 80er Jahre aus Liebe zu einer Leipzigerin in die DDR. Jeden Montag und Mittwoch hat Boris Bujanow Sprechtag im Gemeindehaus. Dann hilft er beim Ausfüllen von Formularen, bei der Arbeits- und Wohnungssuche, bei Problemen mit Vermietern und ähnlichen Sorgen. »Mehr als zwei Drittel der Gemeindemitglieder kommen zu mir«, schätzt er, die meisten seien über 50 und nicht erwerbstätig. 98 Prozent der rund 1.200 Gemeindemitglieder sind Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. »Sie leben in einer Parallelgesellschaft«, sagt Bujanow. »Sie vergleichen sich nicht mit den Deutschen in ihrer Umgebung. Sie sind froh, daß sie hier in sozialer Sicherheit leben und ihre Kinder und Enkel eine Perspektive haben. Für die Zuwanderer ist Sozialhilfe ein Aufstieg, für die Deutschen ein Abstieg.«
Viele der Menschen, die eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung jüngst als »abgehängt« bezeichnete, waren früher Teil der deutschen Gesellschaft. Die Zuwanderer hingegen sind nie Teil dieser Gesellschaft gewesen. Bestenfalls versuchen sie, nach einigen Monaten oder Jahren des Akklimatisierens anzudocken und dazuzugehören. »Erst dann, wenn sie einigermaßen integriert sind, beginnt der soziale Vergleich«, sagt Boris Bujanow.
Wie die meisten Zuwanderer hat auch Iryna Bryl kaum Kontakt mit den Deutschen in ihrer Umgebung. Die 69jährige wohnt im Stadtteil Volkmarsdorf, einem sogenannten Problembezirk mit hoher Arbeitslosenquote. Daß ihre Nachbarn an so vielem so wenig Interesse haben, findet Bryl befremdlich. »Ich weiß mehr über Leipzig als sie, obwohl sie immer hier gewohnt haben. Aber sie sitzen fast nur zu Hause.« Die Zuwandererin geht jeden zweiten Mittwoch im Monat in eines der Leipziger Museen, denn da ist freier Eintritt. Im vergangenen Jahr war sie an diesen Tagen sehr oft im Stadtgeschichtlichen Museum. Wie kaum ein zweiter Migrant in Leipzig weiß sie inzwischen über die Geschichte der Stadt Bescheid. »Sie können Iryna alles fragen«, sagt Sofya Rapoport voller Respekt. »Wenn wir Besuch haben, macht sie eine historische Stadtführung.«
Doch seien sie wohl nicht ganz typisch, geben die zwei Frauen unisono zu. Es hänge von der Ausbildung ab, meint Iryna Bryl. »Nein, vom Charakter«, entgegnet Sofya Rapoport, »wir sind selbstgenügsam und haben Interesse am Leben. Es gebe unter den jüdischen Zuwanderern etliche, die das Migrantendasein in Depressionen gestürzt habe, vor allem Männer. »Viele Paare trennen sich.« Einmal habe Sofya Rapoport von einer Frau gehört, die nach zwei Wochen in Deutschland wieder in die Ukraine zurückgekehrt sei. »Die hat es hier nicht ausgehalten.«
Bleibt die Frage: Wie kommen die beiden Frauen über die Runden bei so hohen kulturellen Ansprüchen? »Wir können sparsam leben«, sagt Sofya Rapoport, »wir sind sowjetische Leute.« Die beiden Damen und die meisten ihrer Freundinnen kaufen ihre Kleidung selten neu, sondern gebraucht. Wenn sie von einem Schnäppchen hören, sagen sie es weiter. Neue Filme sehen sie nur dienstags an, denn da ist Kinotag und »die Vorführungen am Nachmittag für Senioren sogar noch billiger«. Ins Restaurant gehen sie nie. »Wir kochen selbst.« Daß die Cafés im Stadtzentrum bereits am Morgen derart voll sind, finden sie absurd und schütteln die Köpfe über so viel Verschwendung. Die beiden Frauen haben früher oft bangen müssen um Essen und Kleidung, sagen sie. Seit sie hier leben, haben sie zumindest diese Sorgen nicht mehr. Tobias Kühn
Marina Bidubna sitzt mit ihrer zweijährigen Tochter Anna und Mutter Lidiya Wilfand im kleinen Warteraum vor dem Büro der Sozialarbeiterin in der Jüdischen Gemeinde Essen. Novembersonne dringt durch die bunten Glasbausteine in der Wand. Anna schmiegt ihre Wange an die der Mutter. Sie schaut jeden Neuankommenden fröhlich an und flirtet. Mutter Marina sitzt still in sich gekehrt.
Vor einem Jahr war sie nach Essen gekommen, wo schon ihre Eltern und ihre ältere Schwester lebten. Sie kam mit Anna, ohne ihren Mann. Das Kind konnte sich nicht bewegen, es leidet an einer Erkrankung des zentralen Nervensystems, die nur in der Ukraine behandelt werden konnte. Deswegen war Marina für ein halbes Jahr wieder in ihre Heimat, in die Nähe von Lutsk zurückgekehrt. Dort bekam sie zwei Kuren für ihre Tochter. Seit drei Tagen ist sie wieder in Essen. Und einer ihrer ersten Wege hat sie in die Gemeinde geführt. Marina braucht Rat.
Die Ausländerbehörde versteht nicht, warum sie erst nach Deutschland eingewandert und kurze Zeit später wieder für lange Zeit in die Ukraine zurückgefahren ist. Gemeinde-Sozialarbeiterin Galina Tschertes telefoniert mit dem Essener Sozialamt. Dort trifft sie auf das gleiche Unverständnis. »In der Ukraine kennen sie Therapien, die es hier in Deutschland noch nicht gibt«, erklärt sie geduldig. Hat Marina Bidubna schon einmal Leistungen erhalten? Hat sie nicht. Gibt es denn ein Aktenzeichen, um den Fall wieder aufzunehmen, fragt die Kollegin von der Stadtverwaltung. Mutter Lidiya zieht ein amtliches Schreiben aus ihrer Kunstlederhand- tasche. Offensichtlich findet man Marina wieder in den Unterlagen. Sie muß eine Unterkunft nachweisen, zum Sozialamt kommen, dann erhält sie eine Bescheinigung, um zum Jobcenter und schließlich wieder zur Ausländerbehörde gehen zu können. Deutsch spricht Marina nicht, aber Englisch, die 27jährige hat in der Ukraine diese Sprache gelernt. Ihre ältere Schwester studiert hier in Deutschland. Ihr Vater Oleksiy hat einen Ein-Euro-Job, Mutter Lidiya erhält Sozialhilfe. Die Familie ist arm, aber nicht allein. Sie haben sich, Freunde und die Gemeinde, die ihnen hilft.
»Am Anfang kommen die Neuzuwanderer immer wieder mit alltäglichen Problemen zu uns«, erzählt Galina Tschertes: Sie brauchen eine Unterkunft, müssen die Sprache lernen und sich bei der Agentur für Arbeit vorstellen. »So ganz allein steht heute keiner mehr«, sagt Sozialarbeiterin Tschertes. Und Marinas Berufschancen? »Über vierzig wird es schwerer, das stimmt«, gibt Tschertes zu, die diese Erfahrung selbst machte. 42 Jahre alt war sie, als sie 1992 nach Essen kam. »Ich möchte eine Umschulung machen für einen Beruf, bei dem ich gute Anstellungschancen habe«, hat sie damals gesagt. Zur Auswahl standen Krankenschwester oder Steuerfachfrau. Sie wählte letzteres. Zwei Jahre später schloß sie mit einer Eins minus ab und war nicht vermittelbar – zu alt. »Ich hatte mein Alter nie verschwiegen.« Ein Tiefschlag, von dem sich mancher deutsche Arbeitssuchende nicht erholt. Tschertes suchte nach anderen beruflichen Möglichkeiten. Seit vier Jahren betreut sie Neuzuwanderer als Sozialarbeiterin.
Soziale Kontakte finden die Gemeindemitglieder in Essen schnell. »Ich habe Leute beim Kiddusch kennengelernt«, sagt Tschertes. Um eine junge Frau habe sie sich Sorgen gemacht, die viel allein war, erzählt die 56jährige. »Sie ist eine kluge junge Frau, fand hier aber keinen Kontakt. Bis ich sie mal zur Jugendgruppe schickte. Jetzt ist sie ständig mit den Jugendlichen unterwegs.«
Und das Geld dafür? Daran hakt es in den meisten Fällen. »Aber Zuschuß gibt es aus dem Integrationsfonds und aus kommunalen Töpfen«, sagt Jewgenij Budnitzkij. Der Gemeindevorsitzende kam ebenfalls 1992 nach Deutschland. Als Inge- nieur und Erfinder von Sicherheitssystemen für Helikopter und Flugzeuge fand er keine Anstellung in Deutschland. Um mit Wissen- schaftlern in Kontakt zu bleiben, gründete er einen Erfinderklub in Deutschland. Seit acht Jahren leitet er ehrenamtlich die jüdische Gemeinde und erhält dafür lediglich eine Aufwandsentschädigung. »Theater und Kino kann ich mir nicht leisten«, gibt er unumwunden zu. Sein Verhandlungsgeschick mit der Stadt Essen bescherte der Gemeinde aber immer wieder finanzielle Unterstützung, sei es für die Verbesserung der Sicherheitsanlagen, für Integrations- oder für Kulturprogramme. Zusätzlich spendiert die Stadt ab und zu ermäßigte Theaterkarten für bedürftige Gemeindemitglieder, oder es gibt freien Eintritt für den Freizeit- und Erholungspark Gruga.
Viele Gemeindemitglieder in Essen sind arbeitslos. In ihren Heimatländern waren sie Ingenieure, Orchesterdirigenten, Pianisten, Lehrerinnen. Eine ihrer Qualifikation entsprechende Anstellung fanden sie in Deutschland nicht. Dafür hat heute die Gemeinde ein eigenes Orchester, einen Chor und einen Sportverein. Vom Sicherheitsbeauftragten erhalten Kinder und Jugendliche Unterricht in Selbstverteidigung, die Älteren treffen sich im Frauenverein oder Seniorenclub.
Siebzig Prozent von den jungen Leuten studieren. Sie kommen nach Deutschland, machen einen Sprachkurs und beginnen mit dem Studium. Wie Galinas Nichte und deren Freund. Sie studierte Design in Düsseldorf. Er hat vor zwei Monaten sein Examen als Elektroingenieur in Aachen bestanden, vier Bewerbungen geschrieben, ist zweimal zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden und entschied sich letztendlich für eine Anstellung in München. Tschertes Nichte arbeitet bei einer Kosmetikfirma in Düs- seldorf. »Wenn man wirklich will, dann findet man auch etwas«, sagt Galina Tschertes. Heide Sobotka
Zuwanderer