von Ronen Guttman
Wer in Ruhe mit dem Rabbiner sprechen möchte, sollte bis nach den Feiertagen warten. »Pessach bedeutet vor allem Streß, für die gesamte Gemeinde und erst recht für den Rabbiner«, entschuldigt sich Avichai Apel. Irgendwo im Durcheinander zwischen Kartons mit koscherem Wein, Gefilte Fisch und Kuchen, natürlich koscher le Pessach, sucht er sein Jackett. Der Einkaufslust der rund 4.000 Mitglieder zählenden Jüdischen Gemeinde Dortmund könne man kaum nachkommen. Die nächtliche Anlieferung per Expreß aus dem belgischen Antwerpen mußte irgendwo untergebracht werden. Das Rabbinat der Ge- meinde gleicht jetzt eher dem Lagerraum eines jüdischen Feinkosthandels. Fast zwei Tonnen Mazzot, 700 Kilogramm koscheres Fleisch, mehrere Hundert Flaschen Wein und Traubensaft sowie Dutzende Kuchen sind seit voriger Woche an jüdische Haushalte verkauft worden. Und der Vorstand sorgt sich, ob die Lieferung überhaupt ausreicht. »Man möge sich das mal vorstellen: Das ergibt ein halbes Kilo Mazze pro Kopf«, errechnet Apel und findet sein Jackett unter einem Stapel Kopien, die er sogleich unter den Arm klemmt und in die Synagoge auf der anderen Straßenseite trägt.
Wie jeden Montag findet sich auch heute der Minjan zum gemeinsamen Morgengebet, dem Schacharit, zusammen. Und wie jeden Montag wird beim anschließenden Frühstück – zum letzten Mal mit Brötchen – ein Abschnitt des Schulchan Aruch, der Sammlung jüdischer Gesetze, besprochen. Das Thema heute, passend zur Jahreszeit, die Pessachvorbereitungen. Punkt für Punkt liest er die Regeln vor und erläutert sie. »Wenn Sie Nudeln, Wodka, Reis oder Kekse daheim haben, kurz Gesäuertes oder Chametz, so müssen Sie diese bis zum Pessachvorabend verzehren oder in einem Schrank verschließen«, erklärt Rabbiner Apel. »Aber wenn ich Chametz in einem Schrank verschließe, dann gehört es doch immer noch mir«, merkt Udo Melzer, ein pensionierter Kaufmann, an. Daß die Weisen auch auf dieses Problem eine passende Antwort anbieten, wundert zwar niemanden. Die Lösung versetzt doch so manchen der 20 zumeist älteren Gemeindemitglieder in Erstaunen. »Wenn wir Gesäuertes nicht besitzen dürfen, so können wir es einem Nichtjuden verkaufen«, antwortet der Rabbiner. Traditionell wird alles im Schrank Verstaute zunächst an den Rabbiner verkauft, der dann seinerseits einen Nichtjuden für den Kauf der Teigwaren und Hülsenfrüchte ausfindig macht. Ist alles zu Pessach verbotene verkauft, wäre man per Vertrag vom Besitz des Chametz entbunden. Nach Pessach können die verbotenen Speisen zum selben Preis wieder zurückgenommen werden, mit anderen Worten, der Verkauf wird für null und nichtig erklärt. Melzer will es nun aber ganz genau wissen. »Der Eigentümer ist also nicht zwangsläufig auch Besitzer«, stellt er fest, und eine Diskussion entbrennt, der bald nur noch die anwesenden Jurastudenten und ehemaligen Gewerbetreibenden folgen können. Inzwischen machen Verkaufsverträge die Runde, die unterschrieben wieder beim Rabbiner landen. »Wem wird eigentlich die Ware verkauft?« meldet sich schließlich jemand vom anderen Tischende, seine Unterschrift sorgfältig abwägend. »Unserer Sekretärin Frau Poggenpohl aus dem Gemeindebüro«, antwortet der Rabbiner kurz.
In ihren 22 Jahren als Angestellte der jüdischen Gemeinde hat sie manches Kuriose miterlebt. Daß ihr nun der Rabbiner einen Stapel Papiere mit Angeboten über vermutlich mehrere Dutzend Kilo italienischer Teigwaren und viele Flaschen Alkohol russischen Ursprungs zu einem un-
angemessen geringen Betrag auf den Schreibtisch legt, nimmt sie nur kopfschüttelnd zur Kenntnis. Apel erklärt, daß die Erinnerung an ägyptische Sklaverei und die Erfahrung des Auszugs von immenser Bedeutung für das Judentum sei. Der Verkauf von Gesäuertem sei eine Form der Vorbereitung. »Praktisches Nachvollziehen«, nennt es der 31jährige Rabbiner und beschließt seine Erzählung. Frau Poggenpohl beißt in ihr Butterbrot – es ist das letzte, das sie an ihrem Schreibtisch zu sich nimmt, bis Pessach vorüber ist. Achselzuckend greift sie zum Kugelschreiber, um zu unterschreiben. Und Pasta und Hülsenfrucht gehen in ihren Besitz, oder vielleicht doch Eigentum über, darüber wird im Erdgeschoß noch debattiert.
In der Küche türmen sich währenddessen meterhohe Berge von Tellern, Gläsern und Besteck auf den metallenen Arbeitsplatten. Köchin Lewana Rechtmann und ihr Team sind ebenfalls im Streß. Der Umgangston ist rauh. Daß der Rabbiner anwesend ist, steigert die Nervosität, jetzt lieber doch einmal mehr über die Tische wischen. Bis zum Abend muß die gesamte Küche gereinigt sein, denn am kommenden Morgen beginnt der Countdown für den unaufhaltsam näher rückenden Pessachseder. Gefilte Fisch, eine Suppe, die Hähnchen und das Gemüse in verschiedenen warmen und kalten Variationen müssen für 250 Personen zubereitet werden. Kantor Daniel Tzah trägt Töpfe mit siedendem Wasser an die Arbeitsplatten heran und gießt das Wasser über ihnen aus. »So kaschert man Arbeitsplatten«, erklärt er. Ähnlich wird mit den Tellern verfahren und mit dem Besteck. Rabbiner Apel trägt Handschuhe und steht vor einem Gasbrenner, auf dem Wasser in einem riesigen Topf erhitzt wird. Mit einer Zange hält er einen heißen Stein fest. »Der Stein sorgt dafür, daß das Wasser sich über den Siedepunkt hinaus erhitzt«, erklärt Apel und taucht Teller für Teller, Platte für Platte in das heiße Wasser. Der Stein wird mit hineingehalten, und lautes Zischen und das Geräusch von sprudelndem Wasser übertönt die Kommandos der Küchenchefin an ihre Helferinnen.
Der Tag neigt sich dem Ende zu. Apels Büro ist wieder als solches zu erkennen. Der Rabbiner setzt sich für einen kurzen Moment auf den ledernen Sessel hinter seinem Schreibtisch. Vor der Tür liegen sorgfältig zusammengeklappte Kartons, und nur wenige Weinflaschen liegen noch im Regal. In den kommenden Tagen stehen das rituelle Suchen mit der Feder bei Kerzenlicht und das Verbrennen der Chametz-Reste an. Heute warten daheim Frau und Kinder. »Für meinen jüngsten Sohn wird es immer enger«, erzählt er lachend. Seit Tagen wird die Wohnung systematisch Zimmer für Zimmer aufgeräumt. Für den beinahe dreijährigen Shuwael bedeutet das, jeden Tag ein Raum weniger, in dem er Kekse essen darf. Doch auch dagegen gebe es ein Mittelchen. »Damit der Übergang nicht allzu schwer fällt«, sagt Apel augenzwinkernd und greift in die Schublade: Kekse, koscher le Pessach.