von Rabbiner Walter Rothschild
Als Jakow seinen Bruder Esaw nach Jahren wiedersieht, sagt er zu ihm: »Nimm doch den Segen an, der dir von mir überbracht worden ist, denn Gott hat mich begnadet, und ich habe alles« (1. Buch Moses 33,11). Ein merkwürdiger Vers, den fast keiner richtig liest oder versteht.
Blicken wir zurück auf die Familiengeschichte: Jitzchak und Riwka hatten nach 20 kinderlosen Jahren zwei Söhne bekommen, Zwillinge, aber einander überhaupt nicht ähnlich. (Die Geschichte wäre vielleicht ganz anders verlaufen, wenn ein Kind weiblich gewesen wäre ...) Jakow wird nach seinem Aussehen benannt, Esaw nach dem, was er tut. Einer wächst zu einem Jäger, einem Mann der Tat, heran, der andere bleibt lieber zu Hause. Er liebt die Intrige und treibt es arg: Er ist sogar bereit, Vater und Bruder zu betrügen.
Jakow erbeutet einen Segen, den sein Vater Jitzchak eigentlich an den anderen Sohn, Esaw, weitergeben wollte – den Segen des Bechors, des Erstgeborenen. Esaw ist davon bitter enttäuscht. Dass dies geschieht, hätte er nie für möglich gehalten. Ist er naiv? Ist es für ihn wirklich eine Überraschung, dass ihn sein Bruder ausgetrickst hat? Und wusste er er von der Rolle, die seine eigene Mutter dabei spielte? Wie auch immer, Esaw ist in seiner Wut bereit, Jakow zu töten. In Lebensgefahr muss dieser fliehen, die Mutter sagt ihm, wohin: zu Onkel Laban. Es ist die Ironie der Geschichte, dass Jakow von seinem Vater zwar den Segen geerbt hat, nicht aber den Besitz – diesen bekommt Esaw.
Wir stehen vor einer der wichtigsten Fragen der jüdischen Tradition und Theologie, einer Frage, die nicht nur nie beantwortet, sondern von den Protagonisten nicht einmal gestellt wurde: Warum muss der Bund so selektiv weitergegeben werden? Warum kann nicht Awraham den Bund sowohl an Jitzchak als auch an Jischmael vererben? Warum darf Jitzchak nicht, ganz ohne Neid zu provozieren, den Bund an beide Zwillingssöhne weitergeben? Und warum ist es für Jakow unmöglich, allen seinen zwölf Söhnen einen Teil des Brits zu geben, um somit alle daran zu beteiligen? Das hätte viele Konflikte erspart!
Stattdessen scheint der Bund nur exklusiv zu sein – ein Versprechen, das nicht aufgeteilt werden kann oder darf. Interessanterweise zeigt Awraham sich bereit, das Land mit seinem Neffen Lot zu teilen (1. Buch Moses 13,9). Warum aber ist der Bund unteilbar? Das ist unklar.
In jeder Generation gibt es Probleme mit diesem Bund: Awraham muss sich entscheiden zwischen seinem ersten Sohn (den mit der Nebenfrau) und seinem zweiten Sohn (den von der ersten Frau); Jitzchak muss gewissermaßen entscheiden zwischen den Zwillingen – am Ende ist er betrogen und der Segen wurde gestohlen. In der nächsten Generation hat Jakow die Wahl zwischen dem ältesten Sohn seiner ersten Frau Lea – Re’uven – und dem Erstgeborenen von Rachel: Josef. (Im 1. Buch Moses 46,8 wird Re’uven als Bechor bezeichnet.) Weil es die anderen Brüder vereiteln, erbt am Ende keiner von beiden den Bund, sondern Jakows Enkelsohn Efraim in Ägypten. Und auch hier (1. Buch Moses 48, 9-14) gibt Jakow den Segen an den zweitgeborenen Sohn weiter, der Patriarch überkreuzt seine Hände. Merkwürdig.
Danach verschwindet dieser Bund aus der Geschichte, er geht einfach verloren. Und als Gott 400 Jahre später die Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei befreit, gibt er ihnen einen neuen Bund: die Tora. Sie ist für alle! Für Männer, Frauen, Kinder – und sogar für die Fremden unter ihnen.
Wenn man verlangt, den Segen nur an den Erstgeborenen zu vererben, warum ist es dann so schwierig, diesen Bechor zu definieren? Und warum war es Jakow so wichtig, die Identität des Bechors zu stehlen? Er ruinierte damit die Beziehungen innerhalb seiner Familie. Er hinterließ allen materiellen Besitz und kam als mittelloser Flüchtling in Haran an. Stattdessen erbte Esaw, der den Segen verpasste, alles Materielle: Diener, Zelte, Vieh.
Und was bietet Jakow seinem Bruder Esaw an, als er ihn nach Jahren wiedersieht? Ein Geschenk, etwas Kleinvieh, vielleicht sogar einige Knechte. Mag sein, dass dies ein materieller Segen ist. Die besondere Beziehung zu Gott jedoch ist es nicht.
Wie kann man einen Segen messen? Welchen Wert hat ein Segen? Ist es nur eine Formel aus Wörtern? Reden wir hier von Erbrecht, dem Recht des Erstgeborenen, bevorzugt zu werden, egal ob er es verdient hat oder nicht? In der Welt der Adelshäuser hat der Erstgeborene Anspruch auf Autorität und Titel, auch wenn der Zweit- oder Drittgeborene besser dafür geeignet wäre.
Es gibt so viele Rätsel in dieser Geschichte und Fragen, die nie gestellt wurden. Das ist unsere Aufgabe. Wie verstehen wir als Juden unsere Rolle, Segen zu sein und Licht?
Der Autor ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein.